Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
peinlich sie wirkte? Viktoria vermutete, dass es ihr
egal war. Immerhin hatte sie einen Schlaganfall überlebt, was
ihr ein Recht auf absonderliches Benehmen verlieh.
Robert
Huntingdon hatte seine Zigarre ausgeraucht und war wieder zu den
Damen getreten. Seine Frau beachtete er nicht, der Mutter schenkte er
nur einen kurzen Blick.
»Wie
ging dieser Aufstand der Tai…Ta… also wie verlief er
denn?«, fragte Viktoria neugierig und merkte überrascht,
dass der Hausherr sich ihr zuwandte.
»Brutal,
wie alles in diesem Land. Wir Briten überlegten lang, auf wessen
Seite wir uns schlagen sollten. Es war sozusagen die Entscheidung
zwischen einem alten, geschwächten und völlig weltfremden
Greis, also der Kaiserdynastie, und einem unzivilisierten,
muskelbepackten Barbaren.«
»Also
ich als Frau hätte den Barbaren genommen und versucht, ihm ein
paar Manieren beizubringen«, gluckste Margaret Huntingdon
fröhlich und ließ sich Sherry nachschenken. Emily seufzte
laut. Viktoria zwang sich, ein Grinsen zu unterdrücken. Die alte
Margaret war einfach köstlich.
»Zum
Glück werden politische Entscheidungen aber nicht von Frauen
getroffen«, entgegnete Robert Huntingdon sehr laut. Es gefiel
ihm offenbar ganz und gar nicht, wenn jemand seine Aussagen nicht
ernst nahm. Viktoria vermied es taktvoll, ihn auf das Geschlecht des
gegenwärtigen englischen Monarchen hinzuweisen. »Die
Taiping waren unberechenbare Fanatiker«, setzte er mit
Nachdruck hinzu. »Es war eine kluge Entscheidung, gegen sie
vorzugehen. Nur ein Verrückter konnte auf die Idee kommen, sie
zu unterstützen.«
»Jetzt
spiel dich nicht so auf, als würdest du etwas von China
verstehen. Andrew, der hatte sich mit chinesischer Geschichte befasst
und beherrschte die Sprache fließend, während du über
die Leute hier nur die Nase rümpfst, ohne sie überhaupt zu
kennen!«, rief seine Mutter auf einmal. Viktoria sah erstaunt
die Hände der alten Dame zittern, als sei sie ernsthaft
aufgebracht. Sanft strich sie ihr über den hellbraunen Ärmel,
während sie alle Kammern ihres Gedächtnisses erfolglos nach
dem Namen Andrew durchforschte. Von wem hatte die alte Dame bloß
mit derartiger Aufregung gesprochen?
Robert
Huntingdons Gesicht war erstarrt. Emily holte laut Luft. Mehrere
Augenpaare hatten sich auf die Familie gerichtet. Viktoria überlegte
gerade, ob es passend wäre, sich nach der Identität von
diesem Andrew zu erkundigen, als Margaret wieder zum Reden ansetzte.
»Außerdem
war ich damals in Nanking und habe die Rebellen gesehen, ganz im
Gegensatz zu meinem klugen Sohnemann«, fügte sie hinzu.
Nun hatte ihre Stimme wieder spöttisch geklungen, als genieße
sie das erneute Sticheln. Dennoch entspannte Robert Huntingdon sich
ein wenig und Emily senkte wieder den Blick. Viktoria ahnte, dass nun
eine der aufregenden Geschichten der alten Dame folgen würde.
Neugierig beugte sie sich vor, aber der Pastor mischte sich
unerwartet ins Gespräch.
»Ich
glaube, im Ballsaal wird bereits Musik gespielt. Wir sollten
aufbrechen«, mahnte er. Tatsächlich war es im Garten
auffallend leer geworden und aus dem Hintergrund erklang eine
Walzermelodie. Die Dame mit Monokel runzelte die Stirn, als hätte
sie Margaret Huntingdons Bericht durchaus gern gehört, aber
Emily war bereits aufgestanden.
»Ja,
das stimmt, gehen wir«, meinte sie mit tiefer Erleichterung.
Zum ersten Mal an diesem Abend sah Robert Huntingdon seine Frau an.
Er nickte, erhob sich und löste so einen allgemeinen Aufbruch
aus. Viktoria wusste, dass es ihre Aufgabe war, den Rollstuhl der
alten Dame zu schieben. Sie selbst hätte ihren Vater in diesem
Zustand niemals der Fürsorge einer Fremden überlassen. Aber
die Mutter? Sie konnte es nicht sagen.
Das
allgemeine Gedrängel beim Eintritt in den Ballsaal machte eine
längere Unterhaltung unmöglich. Menschen schritten auf und
ab, formten Grüppchen, die sich wieder auflösten und zu
neuen Menschentrauben wurden. Viktoria schob den Rollstuhl und folgte
Emily. Der große, mit kristallenen Lüstern erhellte Saal
weckte Erinnerungen an ihr Leben in Hamburg, ein Kribbeln ging durch
ihre Beine, die sich plötzlich danach verzehrten, Tanzschritte
zu tun. Sie blickte an sich hinab. Auf einmal missfiel ihr der
gewöhnliche Musselinstoff. Sie sehnte sich nach rauschender,
leuchtender Seide, die zu einem solchen Anlass gepasst hätte.
Der Entschluss, niemals mehr
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