Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
einem Käfig, der umkippte. Und dann
wollte er weglaufen und … also ich habe ihn sozusagen gekauft,
weil ich ihm helfen will.«
Unsicher
blickte sie in Nathans Gesicht, wartete auf einen abfälligen
Blick, der über ihre weibliche Sentimentalität spotten
würde. Aber der junge Mann nickte nur.
»Das
Elend in diesem Land ist sehr groß, ich weiß. Soll ich
mir das Kind ansehen? Ich könnte versuchen herauszufinden, woher
es kommt.«
Auf
einmal ging es Viktoria wie Anette. Sie war froh, Nathan an ihrer
Seite zu wissen.
Er
beugte sich langsam über den Jungen, der ihn mit
schreckgeweiteten Augen ansah. Nathan redete ein paar Worte. Der
Junge starrte weiter. Nathan redete nochmals. Dann wurde endlich eine
Antwort geflüstert, ein kurzes Gespräch kam in Gang.
»Er
stammt aus Wuhu«, erklärte Nathan. »Sein Name ist
Dewei. Er scheint Mandarin besser zu beherrschen als den Wu-Dialekt,
der in Shanghai gesprochen wird.«
Viktoria
erfuhr zum ersten Mal, dass Chinesisch in verschiedenen Dialekten
gebrüllt werden konnte. Und sogar manchmal leise gesprochen, wie
sie gerade erlebt hatte.
»Er
dürfte ungefähr sieben Jahre alt sein, aber es ist schwer
einzuschätzen, denn hungernde Kinder wachsen langsamer. Seine
Eltern sind tot. Sein Onkel verkaufte ihn und seine Schwester an
einen Menschenhändler«, erklärte Nathan in völlig
ruhigem Tonfall. Viktoria sah wieder das stumme, weinende Gesicht des
Mädchens im Käfig.
»Wenn
seine Schwester noch bei dem Menschenhändler ist, dann könnten
wir sie vielleicht auch kaufen«, sprudelte es aus ihr heraus.
»Ich meine … ich müsste Schulden machen, aber das
zahle ich schon zurück.«
Ihr
wurde bewusst, dass es nicht einfach wäre. Schamesröte
stieg ihr ins Gesicht. Es war so erniedrigend, arm zu sein! Einst
hätte sie alle Kinder auf dem Karren kaufen können, ohne
mit der Wimper zu zucken.
»Die
Schwester wurde bereits in Wuhu fortgebracht«, erklärte
Nathan nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Jungen. »Er weiß
nicht wohin. Es hätte keinen Sinn, nach ihr zu suchen. Zu viele
kleine Mädchen werden in diesem Land verkauft!«
Viktorias
Magen verkrampfte sich. Das also war die Welt der erhabenen
Gelehrten, von der ihr Vater geschwärmt hatte.
Nathan
musterte sie mit erstaunlich viel Verständnis.
»Ich
habe versucht, dem Jungen klarzumachen, dass wir ihm nichts Böses
wollen. Aber ehrlich gesagt bezweifle ich, dass er es glaubt. Er hat
genug anderweitige Erfahrungen gemacht. Hindern Sie ihn daran
wegzulaufen, Miss Virchow. Dann hätten Sie ihr Geld umsonst
ausgegeben, die Freiheit wird ihm nicht gut bekommen. Es gibt hier in
Shanghai christliche Missionen, die sich um Waisenkinder kümmern.
Am besten wäre es, wenn Sie ihn dort hinbrächten.«
Viktoria
nickte dankbar. Anette sah ihren Verehrer strahlend an.
»Nun
sollten wir alle heimwärts fahren«, redete Nathan weiter.
»Ich werde für die Damen eine weitere Jinrikscha
organisieren, damit der verletzte Junge in Ruhe liegen kann.«
Er
blickte Anette an, deren breites, leuchtendes, vor Freude gerötetes
Gesicht Viktoria an die chinesischen Laternen erinnerte. Taktvoll
trat sie ein paar Schritte zur Seite, damit die Liebenden sich
ungestört verabschieden konnten.
Seltsam,
es tat nicht mehr weh, sie miteinander turteln zu sehen. Sie war nun
mit anderen Dingen beschäftigt. Wartend stand sie vor Shikais
Jinrikscha und musterte das in ihr liegende Kind. Seine Augen waren
nun wach, aufgebracht, wütend und ängstlich. Sie wagte
immer noch nicht, Dewei zu berühren. Aber das Schicksal hatte
sie beide aus einer Jinrikscha und einem Käfig geschleudert,
sodass sie Seite an Seite landeten. Vielleicht war sie von nun an
nicht mehr ganz so auf sich allein gestellt, wie Anette gemeint
hatte.
6. Kapitel
»Die
Form asiatischer Augen kann sehr schön sein, finden Sie nicht,
Miss Virchow?«, meinte Margaret Huntingdon, während sie
den vor ihr sitzenden Dewei musterte. Glücklicherweise hatte
Emily schlafend in ihrem Zimmer gelegen, als Viktoria ins Haus
gekommen war. Shikai hatte sich erstaunlicherweise hilfsbereit
gezeigt, ohne weitere Dollars zu verlangen. Schnell und unauffällig
war der Junge in das Zimmer der alten Lady getragen worden, die von
seinem Auftauchen nicht aus der Ruhe gebracht wurde.
»Ja,
er ist ein durchaus hübsches Kind«, stimmte
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