Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
erwarten.
Die
Lippen des Jungen formten flüsternd das erste chinesische Wort,
das ihr vertraut schien: »Taiping«.
******
Drei
Tage später begleitete Viktoria Anette wieder in den Park, wo
ein geheimes Treffen mit Nathan verabredet war. Sie hatte Dewei
mitgenommen, damit ihm keine eventuellen Unglücksfälle im
Haus der Huntingdons angelastet werden konnten. Margaret ging es
inzwischen wieder gut, doch schien sie die Unterhaltung vor ihrem
Anfall vergessen zu haben. Sie sprach nicht mehr von Andrew, redete
von keinem Ring. Ihr Benehmen war von sehr bemühter, fast
künstlicher Heiterkeit, als wolle sie alle Welt überzeugen,
keine Invalidin zu sein.
Der
Ring lag wieder im untersten Fach der Schmuckschatulle. Viktoria war
es zu gefährlich erschienen, ihn mitzunehmen, denn wurde er bei
ihr entdeckt, konnte dies als Diebstahl ausgelegt werden. Die
beschriebenen Papiere schienen ihr weniger kompromittierend, da
völlig wertlos. Margaret hatte sie nicht einmal erwähnt.
Nun ruhten sie in Viktorias Ridikül. Aus Dewei war nichts mehr
herauszuholen gewesen, aber dank Anette kannte sie jemanden, der
fließend Chinesisch sprach und es hoffentlich auch lesen
konnte.
Viktoria
folgte der hastig dahineilenden Anette. Als sie an dem Sikh
vorbeigingen, der den Eingang zum Park bewachte, fiel ihr plötzlich
ein, dass Chinesen das Betreten der Anlage verboten war, mit Ausnahme
von Bediensteten, die ihre Herrschaften begleiteten. In der
Erwartung, dass Dewei als solcher eingeschätzt würde, zog
sie ihn an dem dunklen, von einem Turban gekrönten Gesicht
vorbei. Dabei hatte sie bewusst eine sehr damenhafte Miene
aufgesetzt, um jede Einmischung im Keim zu ersticken. Es wirkte, denn
der Sikh verzog keine Miene.
Nathan
wartete bereits am Rande eines kleinen Pavillons. Die dunklen Augen
des jungen Mannes begannen bei Anettes Anblick zu leuchten. Sie
beschleunigte ihre Schritte, sodass ihr Gang endgültig zu einem
Dauerlauf wurde. Viktoria sagte sich, dass sie Anette wieder einmal
zu mehr Vorsicht ermahnen sollte. Die Romanze musste geheim bleiben,
und außerdem war es allgemein unklug, Männern eine
Eroberung allzu leicht zu machen. Aber im Moment hatte sie andere
Prioritäten.
»Mr.
Sassoon, wie schön, Sie hier zu treffen«, begann Viktoria
so gelassen wie möglich, um eine zufällige Begegnung
vorzutäuschen. »Da ist etwas, das ich Sie schon lange
fragen wollte.«
Unter
den ratlosen Blicken des Liebespaares betrat sie mit Dewei das Innere
des Pavillons, wo sie etwas unbeobachteter waren. Nathan folgte
schließlich, und dann tat Anette es natürlich auch.
»Bitte,
es tut mir leid, Sie aufzuhalten, aber könnten Sie ein paar
Texte für mich übersetzen? Ich habe sie einem
Straßenhändler abgekauft, weil ich diese chinesische
Schrift so hübsch finde. Aber jetzt würde ich natürlich
gern wissen, was da geschrieben steht.«
Sie
lächelte den jungen Mann so unverkrampft wie möglich an.
Sein bohrender Blick machte ihr klar, dass sie eine schlechte
Lügnerin war. Welcher Straßenhändler würde altes
Gekritzel auf gewöhnlichem Papier verkaufen? Aber Nathan nahm
die zwei Blätter höflich entgegen, um einen Blick darauf zu
werfen. Zunächst studierte er das abgerissene Blatt, wo weitaus
mehr zu lesen war.
»Es
ist ein Liebesgedicht«, erklärte er nach einer Weile.
»Wie
schön! Jetzt übersetze doch endlich!«, drängte
Anette. Nathan holte Luft.
»Dich
und mich verbindet glühende Leidenschaft. Wenn Leidenschaft
brennt, ist sie wie Feuer. Nimm einen Klumpen aus Lehm, knete ein
Dich, forme ein Mich, dann zerschlage sie beide und vermische sie mit
Wasser.«
Er
verstummte mit einer ratlosen Falte zwischen seinen dichten Brauen.
»War
das alles? Ich finde es nicht sehr romantisch«, murrte Anette.
»Na ja, Chinesen sind eben anders.«
»Das
ist nicht der ganze Text«, erklärte Nathan. »Es ist
ein recht bekanntes, altes Gedicht, das eine vornehme Chinesin an
ihren Mann schrieb. Ich habe es schon einmal gelesen, kann mich aber
nur dunkel daran erinnern. Doch der Rest wurde hier abgerissen,
ungefähr in der Hälfte.«
Seine
Finger zeigten auf das zerfledderte Ende. Viktoria schluckte.
»Na
ja, da habe ich wirklich mein Geld verschwendet«, kicherte sie.
»Vielleicht hat eine enttäuschte Frau das Gedicht einmal
in Stücke reißen wollen.«
»Aber
nein«,
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