Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
aus ihren Verstecken lockte. Sie
erwiderte das Gaffen mit einem bemühten Lächeln, versuchte,
sich als harmlos und nett zu präsentieren, doch trotzdem wurde
vorsichtiger Abstand von ihr gewahrt. Sobald sie den Kindern ihren
Rücken zuwandte, vernahm sie Getuschel und lautes Gelächter.
Sie bemühte sich, es zu überhören. Dewei jedoch fuhr
energisch herum und überschüttete seine Altersgenossen mit
einer Flut chinesischer Worte, die sich nicht besonders freundlich
anhörten. Manchmal wies er auf die berittenen Männer, an
deren Gürteln Dolche hingen. Viktoria ahnte, dass er den Kindern
eine sofortige Hinrichtung androhte, falls sie nicht aufhörten,
über seine seltsam aussehende Begleiterin zu spotten. Das war so
unsinnig, dass sie selbst fast darüber lachen musste. Für
all jene Chinesen, die damit beauftragt waren, sie nach Peking zu
bringen, schien sie nichts weiter als eine zu transportierende Last
zu sein, die für ihren Herrn aus unerfindlichen Gründen
wichtig war. Doch Deweis Drohgebärden zeigten eine fast magische
Wirkung, denn sie ließen allen Spott sogleich verstummen.
Viktoria nahm es dankbar hin. Sie fühlte sich in nahezu
lächerlicher Weise abhängig von diesem Jungen, war nicht
mehr seine Retterin, sondern musste selbst immer wieder gerettet
werden, wenn unverständliche Worte auf sie niederprasselten.
Leider
verschwand der Junge regelmäßig, sobald sie irgendwo Halt
machten. Viktoria verstand den Grund zunächst nicht, doch als er
ihr von seinen Gesprächen mit den Männern, die sie auf der
Reise begleiteten, erzählte, wurde ihr klar, dass er
herausfinden wollte, wie ihrer beider unbekannte Zukunft aussehen
könnte. Bereits Bekanntes und neue Erkenntnisse fügten sich
langsam zu einem klareren Bild.
Lao
Tengfei war Richter in Peking. Er hatte die Provinzialprüfung
für Beamte bestanden und durfte sich daher »Jǔrén«
nennen. Seine nächste Ambition galt dem Amt eines
Provinzgouverneurs, doch dazu musste er die nächste Prüfung
in der Hauptstadt erfolgreich absolvieren. Von diesen Prüfungen
hing die ganze Zukunft eines chinesischen Mannes ab, wie Viktoria zu
ahnen begann. Lao Tengfei war zudem ein Bekannter des Generals Li
Hongzhang, der im Kaiserpalast eine hohe Stellung genoss, und hoffte
von diesen guten Beziehungen profitieren zu können. Viktoria
erfuhr zu ihrem Staunen, dass China nun ebenso wie England von einer
Frau beherrscht wurde. Eine Konkubine des verstorbenen Kaisers,
Mutter seines einzigen Sohnes, hatte sich gegen alle Intrigen
durchgesetzt und galt nun als wahre Machthaberin. Offiziell teilte
sie das Amt der Regentin mit einer anderen Frau, der ersten Gemahlin
dieses toten Kaisers, aber die hatte kein Interesse an Politik,
verhielt sich in einer Art, die von den Männern als weiblich
bezeichnet wurde.
Viktoria
verspürte Respekt für jene unbekannte Chinesin, die sich
eben nicht wie eine Frau benahm, sondern ein riesiges Reich unter
ihre Kontrolle gebracht hatte. Li Hongzhang hatte sie dabei
unterstützt und schien allgemein offen für neue Ideen. Es
war seinem Einfluss zu verdanken, dass nun westliche Sprachen und
Wissenschaften in China unterrichtet werden sollten. Viktoria begann
zu ahnen, dass Lao Tengfeis Wunsch nach einer europäischen
Lehrerin für seine Kinder damit zusammenhing. Er wollte sich als
loyaler Gefolgsmann von Li Hongzhang erweisen, wovon er sich Vorteile
versprach.
Es
klang alles nicht so übel, beschloss sie, und versuchte der
Zukunft gefasst entgegenzusehen.
Die
Reisfelder wurden seltener, denn im Norden baute man Mais, Hirse und
Süßkartoffeln an, wie Dewei ihr überflüssigerweise
erklärte. Viktoria hatte nichts für Landwirtschaft übrig.
Obwohl der Frühling ins Land zog, schien es mit jedem Tag eher
kälter als wärmer zu werden. Sie packte ihren Paletot aus
dem Koffer. In Peking, so hatte Margaret Huntingdon erzählt,
herrschte ein ähnliches Klima wie in England oder Deutschland.
Sie konnte sich auf eisige Winter mit heftigem Schneefall gefasst
machen und grübelte, wie diese chinesischen Holzhäuser wohl
beheizt wurden.
Nach
einigen Wochen mussten sie ein breites Gewässer überqueren.
Huang He, der gelbe Fluss, übersetzte Dewei. Er schien eher
schmutzig braun und schlängelte sich zwischen Felsen dahin. Der
steile Abstieg in der schwankenden Sänfte schien Viktoria ein
halsbrecherisches Unterfangen. Wieder sah sie im Geiste die zähen
Träger stolpern oder zusammenbrechen,
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