Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Mann sind es wert, dein Leben
aufs Spiel zu setzen, dann tue es meinetwegen. Aber mich halte da
bitte raus, ich will nicht für die Folgen verantwortlich sein.«
Sie
hatte so laut gesprochen, dass sich ihr ein paar Köpfe
zuwandten. Ein Glück, dass hier niemand Englisch verstand!
Chuntian
starrte sie nur fassungslos an. Dann sprudelte plötzlich ein
kurzes, aber hysterisch lautes Kichern aus ihrer Kehle.
»Vi
Ki, das ist mein Bruder. Aber es freut mich, dass er dir gefällt.«
Sie
konnte wieder lächeln und legte ihre Hand sanft auf Viktorias
Arm.
»Komm.
Wir müssen reden.«
Sie
gingen zu einer der Straßen, die das Grün durchzogen.
Neben einer Bäuerin, die Früchte auf der Wiese anbot,
hockten sie sich nieder.
»Ich
habe dich nicht belogen«, begann Chuntian dann. »Aber ich
habe nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich wollte wirklich ins
Theater. Doch vor ein paar Tagen erhielt ich heimlich eine Nachricht
von meiner Mutter, die ich fast zwanzig Jahre nicht mehr gesehen
habe. Sie ist hier, in Beijing.«
Ihre
Finger verknoteten sich nervös.
»Sie
ist Gauklerin und hat mir beschrieben, wo sie auftritt. Aber heute
war sie nicht da. Nur ihr Sohn Jinzi. Mein Halbbruder.«
Viktoria
fühlte ihr Herz lauter schlagen.
»Wenn
deine Mutter hier ist, warum kannst du sie denn nicht einfach
besuchen? Oder sie dich?«
Chuntian
stieß einen leisen Seufzer aus.
»Sie
hat schlimme Dinge getan. Jinzis Vater war nicht ihr Gemahl. Sie
musste die Familie verlassen. Und Gaukler sind verrufen, keine
anständige Frau darf Umgang mit ihnen haben.«
Ihre
Finger begannen Grashalme auszureißen.
»Jinzi
sagte mir, wo ich sie finden kann«, flüsterte sie.
Viktoria
verspürte einen Schwall von Energie in ihren Beinen. Sie sprang
auf.
»Na
gut, dann lass uns hinfahren!«
Sie
lief zu dem Schubkarren und hielt dem Diener einen weiteren Tael
unter die Nase. Dann wandte sie sich an Chuntian, die nach kurzem
Zögern ein paar Worte flüsterte.
Der
Ausflug ging weiter.
******
Diesmal
lag das Ziel am äußeren Kanal, der die Stadt umschloss:
Ein kleines Haus kauerte neben einem größeren, farbenfroh
bemalten und mit Laternen geschmückten Gebäude, wo Leute
ein und aus gingen. Chuntian stand eine Weile stumm da. Ihre
Schultern krümmten sich.
»Damals,
als sie fortging, da nahm sie mich nicht mit. Vielleicht mochte sie
mich nicht«, flüsterte sie Viktoria zu.
»Dann
hätte sie dir jetzt, nach so langer Zeit, keine Nachricht mehr
geschickt. Vielleicht will sie dir alles erklären. Los, jetzt
geh! Ich warte solange.«
Sie
gab Chuntian einen leichten Schubs und sah sie lostrotten, bis ihre
schmale Gestalt durch die Tür des kleinen Hauses geschlüpft
war. Dann kam Viktoria sich plötzlich verloren vor, ging ein
paar Schritte am Kanal auf und ab, um sich schließlich ein
Stück vor dem Hauseingang hinzusetzen. Zum ersten Mal war sie
völlig allein unter lauter Chinesen, konnte nur hoffen, dass
ihre Verkleidung sie ausreichend tarnte. Max von Brandt hatte
erzählt, dass es manchmal zu Angriffen auf Europäer kam.
Unruhe zog kribbelnd bis in ihre Fingerspitzen. Sie zwang sich, ruhig
zu atmen. Zur Ablenkung beobachtete sie die Vorbeigehenden.
Eine
Sänfte wurde abgestellt und gab die zarte, elegant gekleidete
Gestalt einer Frau preis. Viktoria musterte beeindruckt das ebenmäßig
geschnittene Profil mit den grellrot bemalten Lippen. Fäden aus
Perlen hingen von dem aufwändigen Kopfputz der Dame herab und
schwankten bei jedem ihrer kleinen Schritte. Viktoria vermutete, dass
es sich wohl um die Konkubine eines reichen Mannes handelte, eine
zweite Meigui. Auf winzigen Füßen wankte sie dem
geschmückten Gebäude entgegen, wo Diener ihr die Tür
öffneten und sich ehrfürchtig verneigten. Viktoria starrte
neugierig weiter, bis das Gesicht der Frau sich ihr plötzlich
zuwandte, um sie für einen Moment durchdringend zu mustern.
Da
wurde ihr schlagartig klar, wen sie soeben beobachtet hatte. Shen
Akeu, die reiche Besitzerin von Teehäusern. Und von Bordellen.
Erst
als eine weitere Gruppe männlicher Gäste eintrat, ein
hübsch gekleidetes Mädchen sie mit gekünsteltem
Lächeln im Türrahmen empfing, nur schrill kicherte, als
einer der Neuankömmlinge sie in die zarten Hüften kniff,
begann Viktoria zu
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