Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
ahnen, neben welcher Art von Etablissement
Chuntians Mutter wohnte.
Sie
kauerte sich zusammen, wich den Blicken der weiteren Männer aus,
die hier eintraten. In der Ferne erklang ein weiterer Glockenschlag
und sie grübelte, wie die Chinesen sich immer merken konnten,
welche Doppelstunde gerade zu Ende ging. Ratlos sah sie zum Himmel.
Die Sonne schien bereits recht tief zu stehen. Wann endlich würde
Chuntian zurückkommen? Oder wurde sie gerade von ihrer Mutter zu
einer gemeinsamen Flucht überredet? Viktorias Zehen begannen,
sich nervös ins Gras zu bohren.
Chuntians
Schatten befreite sie von ihrer Unruhe. Sie blickte erleichtert in
das Gesicht ihrer chinesischen Freundin, sah es blass, verkrampft und
mit hellroten Flecken auf den Wangen.
»Jetzt
müssen wir schnell nach Hause, sonst sind wir zu spät«,
rief sie entschlossen und schob Chuntian zu der Stelle, wo der
Schubkarren wartete. Die Chinesin ergab sich ihrem Drängen wie
eine leblose, steife Holzfigur. Der Karren holperte energisch los,
denn auch der Diener hatte es eilig heimzukehren. Sie flogen über
Steine und andere Hindernisse, prallten unsanft wieder auf den Boden
der Straße.
»Wie
war es?«, fragte Viktoria schließlich. Chuntian starrte
wie versteinert vor sich hin. Dann krümmte sie sich plötzlich
und wurde von einem Weinkrampf heimgesucht.
»Was
ist denn?«, fragte Viktoria hilflos. Als keine Antwort kam,
begann sie Chuntians bebenden Rücken zu streicheln, um die
Verspannung zu lösen. Chuntian hörte nicht auf zu
schluchzen, legte aber den Kopf in Viktorias Schoß, wie Dewei
es gerne tat. So erreichten sie Lao Tengfeis prächtige Höfe.
»Ich
kann nicht an dem Fest teilnehmen«, flüsterte Chuntian,
als sie wieder in Viktorias Haus geschlichen waren. »Ich kann
mich heute einfach nicht beherrschen. Bitte entschuldige meine
Abwesenheit irgendwie.«
Dann
huschte sie hinaus. Viktoria warf Dewei einen ratlosen Blick zu.
»Hat
uns jemand vermisst?«, fragte sie ängstlich und sah ihn
erleichtert den Kopf schütteln.
»Gut,
dann muss ich mich jetzt umziehen.«
Sie
griff entschlossen nach ihrem vertrauten, europäischen Kleid.
Morgen würde sie mit Chuntian reden und hoffentlich erfahren,
wie die Begegnung mit der lang vermissten Mutter verlaufen war. Doch
jetzt musste sie einen entspannten Eindruck machen. Zudem knurrte ihr
Magen und sie war neugierig auf die Mondkuchen, deren Duft sie
anlockte.
******
Viktoria
hatte unerwartet gut geschlafen. Ihr Magen war voll von den schweren,
satten Kuchen, die nach gesalzenen Eiern geschmeckt hatten. Das
gesellige Beisammensein bei Musik und Gesang, der hell strahlende
Mond am endlos weiten Himmel und viele Becher Reiswein, all dies war
eine wahre Erholung nach dem anstrengenden Tag gewesen, hatte ihr
Entspannung gegönnt und sie bei bester Laune in den Schlaf
fallen lassen. Nun räkelte sie sich genüsslich in ihrem
Bett, erleichtert, dass der Unterricht heute Vormittag ausfallen
würde. Ein Diener trug Tee und Morgensuppe herein. Sie hüllte
sich in ihren Morgenmantel, weckte Dewei, der immer noch
zusammengerollt wie ein Welpe in ihrem Rücken lag. Dann fiel ihr
Chuntian ein und sie schämte sich ein wenig für ihre
fröhliche Stimmung.
»Sag
der dritten Gemahlin, dass ich sie zum Morgenmahl in mein Haus
einlade«, sprach sie langsam und sehr bemüht zu dem
Diener, wandte sich dann unsicher an Dewei, der sie ermutigend
anlächelte. Offenbar war ihr ein verständlicher
chinesischer Satz gelungen. Das stete Lächeln des Dieners schien
trotzdem einzufrieren. Er huschte nach mehreren Verbeugungen hinaus.
Viktoria schenkte den Tee ein, beschloss aber mit der Suppe zu
warten, bis Chuntian kam. Sie wusch sich das Gesicht, kämmte ihr
Haar und forderte den widerwillig gähnenden Dewei auf, sich für
den Besuch der dritten Gemahlin anzukleiden.
Dann
schlüpfte sie in ihr Kleid, denn Chuntian brauchte lange. Sie
trank weitere Tassen Tee. Die Suppe begann kalt zu werden.
»Da
stimmt etwas nicht. Ich werde mich erkundigen«, meinte Dewei
schließlich und eilte hinaus. Viktoria fing an, unruhig im Raum
herumzulaufen. Ihre Stimmung wurde düsterer und sie sehnte sich
danach, Chuntians ernstes, vergeistigtes Gesicht im Türrahmen zu
erblicken.
Endlich
kehrte Dewei zurück, doch war er allein.
»Vi
Ki, Lao Tengfei hat von eurem Ausflug erfahren«, meinte er,
bevor
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