Das Geheimnis der Krähentochter
mag ich ja so an dir«, ließ er nicht locker. »Dass
du so rein bist. Nicht einmal eine kleine Lüge kommt dir ohne schlechtes
Gewissen über die Lippen. Dabei ist die Unwahrheit für die meisten Menschen die
leichteste Übung.«
»Du sprichst gewiss aus eigener Erfahrung.«
Er grinste. »Und dennoch verfügst du über eine spitze Zunge. Eine
wirklich seltene Mischung.«
»Meinen aufrichtigen Dank. Es klingt, als würdest du von deinem
Hengst schwärmen.«
Falkenberg musste laut auflachen. »Wie
gesagt, Lügen sind nicht deine Stärke. Aber du verstehst es, von etwas
abzulenken.«
»Ich lenke von gar nichts ab.«
»Doch, das tust du.« Er schob seinen schlanken, sehnigen Körper
näher an ihren. Jedes Mal, wenn er sie so intensiv betrachtete, hatte sie das
Gefühl, sie könne seine Blicke wahrnehmen wie Berührungen. »Du versuchst
nämlich, von meiner Frage abzulenken. Also, was beschäftigt dich so? Was bringt
dich dazu, immer wieder einmal aufmerksam um dich zu blicken? Wie wenn du etwas
suchen würdest. Oder fürchten würdest.«
Sie schwieg, erwiderte seinen Blick nicht.
»Bitte, weihe mich ein in deine Geheimnisse, Bernina.« Sanft
ergriff Falkenberg ihre Hand. »An was hast du gerade eben noch gedacht?«
Über ihren Köpfen glitten zwei Schwalben dahin. Bernina blickte
den Vögeln hinterher, und sie fragte sich, wann sie zuletzt Krähen am Himmel
gesehen hatte. Es musste lange her sein. Und aus einem plötzlichen Impuls
heraus, ohne zu wissen, worauf das hinauslaufen mochte, antwortete sie doch
noch: »Ich habe an einen anderen Mann gedacht.«
Mehr als dass sie es sah, fühlte sie, wie ihn die Bemerkung traf.
»An einen anderen Mann?« wiederholte er betont gelassen. »Schon
wieder an den Maler des kleinen Mädchens, wie ich hoffe. Oder müsste ich etwa
eifersüchtig werden?«
»Nein, gewiss nicht.« Sie fuhr über seine wie immer sorgfältig
glatt rasierte Wange. »Ich konnte bloß nicht widerstehen, dir einen kleinen
Schrecken einzujagen.«
»Einen kleinen? Den größten, den es geben könnte.« Mit der
Fingerspitze berührte er ihr Kinn, um ihr Gesicht behutsam zu seinem zu lenken.
»Also kein Mann, dem du so viele Gedanken schenkst?«
»Doch.« Bernina nickte mit grüblerischem Ausdruck. »Irgendwie
schon.«
»Spann mich nicht noch mehr auf die Folter.«
Bernina gab nach. Sie beschrieb den Fremden mit der schwarzen
Kleidung und schilderte jene Momente, als sie ihn in der Nähe des Palastes
entdeckt hatte.
Wahrscheinlich hatte es sie schon die ganze Zeit über dazu
gedrängt, mit Falkenberg über jenen Mann zu sprechen. Aber Helenes Reaktion
hatte sie womöglich davon abgehalten. Nun war es einfach aus ihr
herausgeplatzt.
Zunächst wirkte Falkenberg überrascht, dann schlich sich kurz ein
seltsam verkniffener Zug um seinen Mund. »Ein Reiter, der in der Nacht den
Palast beobachtet?«
Bernina nickte. Ohne ein Wort. Abwartend sah sie Falkenberg an.
»Du glaubst, es handelt sich um einen Räuber? Dass er Gefahr
bringen könnte?«
»Ich glaube das nicht, ich weiß es. Ich weiß sogar sehr gut, dass
dieser Mann Gefahr bringen kann«, erwiderte sie deutlich, aber auch weiterhin
in abwartendem Ton.
»Und wer soll das sein?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber einmal habe ich erlebt, wie
grausam er sein kann. Er hat einen Hof verwüstet. Er hat Menschen umbringen
lassen.«
»Das mag ja sein.« Er lehnte sich zurück, gestützt auf seine
Ellbogen. »Und du bist sicher, dass es derselbe Mann ist, den du früher einmal
gesehen hast?«
Sie erwiderte nichts.
»Schon gut«, sagte er sogleich. »Bitte sieh mich nicht so an. Es
war nur eine Frage.«
»Ja, aber der Tonfall war eindeutig.«
»Was soll das heißen?«
»Dass es ein Fehler war, dir etwas davon zu sagen. Vergiss es
besten wieder.«
»Bernina, bitte. Es gibt keinen Grund, verstimmt zu sein. Ich kann
dir nur sagen, dass du dir auf Schloss Wasserhain keine Sorgen machen musst. Du
siehst sie nicht jeden Tag, nicht jede Minute, aber es gibt Wachsoldaten im
Palast. Denkst du, der Graf und die Gräfin wären schutzlos?«
Bernina gab ihm keine Antwort.
»Man kann Schloss Wasserhain nicht einfach überfallen. Oder auch
nur in eines der Gebäude eindringen. Irgendwelche Verbrecherbanden würden so
etwas nicht wagen. Wir sind in Sicherheit.« Er versuchte ein Lächeln von ihr zu
erhaschen, aber sie ignorierte ihn.
»Hat Helene deswegen vor Kurzem den Trupp losgeschickt?«, fuhr er
dann fort. »Ich fragte sie, aber sie sagte nur, es handele
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