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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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zum Ausruhen.
    Bernina ließ sich im feuchten Gras nieder.
Die Innenseiten ihrer Oberschenkel schmerzten von dem anstrengenden Ritt. Sie
fühlte Müdigkeit, Erleichterung, Aufregung, Neugier, alles auf einmal.
    Der Riese, der sich Balthasar nannte, hatte die Soldaten nicht nur
um die Tiere, sondern auch um zwei Trinksäcke mit Wasser und um Proviant
erleichtert. Die schale Flüssigkeit und der salzige Speck taten Bernina gut,
und sie fühlte, wie frische Kräfte in ihr erwachten.
    »Wenn du möchtest«, sagte Balthasar kauend, »kann ich dich zurück
zu Schloss Wasserhain bringen. Dort wärst du sicher.«
    Bernina sah an seiner massigen Gestalt vorbei zu irgendeinem
fernen Punkt am Horizont, der sich nach und nach mit dem Licht des neuen Tages
tränkte. »Nein, ich will nicht zurück«, erwiderte sie nachdenklich. Und setzte
mit entschlossenem Klang hinzu: »Ich muss nach Offenburg.«
    Balthasar nahm einen Schluck aus dem Trinksack. »Das ist ein
langer Weg.« In seinem Bartgeflecht glänzten Wassertropfen.
    »Aber ich werde diesen Weg bewältigen.«
    »Nach allem, was man so hört, ist Offenburg zurzeit eine der
gefährlichsten Städte überhaupt. Es heißt, dort wird es zu einer großen
Schlacht kommen.«
    Ohne darauf einzugehen, fragte Bernina: »Was ist mit dem Grafen?
Lebt er noch?«
    »Das weiß ich nicht. Ich sah nur, dass es ihn schwer erwischt haben
muss. Bei ihm kann man nie wissen. Er ist imstande, lebend aus der Hölle
zurückzukehren. Außerdem gibt es in dieser Festung mehr als einen Geheimgang.
Der Graf war immer ein vorsichtiger Mann, der für alle Fälle vorbereitet sein
wollte.«
    »Und wie steht es um den Oberst?« Sie merkte, wie sich der Klang
ihrer Stimme verändert hatte.
    »Das weiß ich noch weniger.«
    Bei ihm ist man auch nie sicher, dachte Bernina. Doch die
Erinnerungen an seine regungslose Gestalt und an das viele Blut in seinem Haar
verfehlten ihre Wirkung nicht. Bernina sah ein, dass sie sich mit dem Gedanken
vertraut machten musste, dass Falkenberg nicht mehr lebte. Es kam ihr seltsam
vor, aber hier und jetzt war ihr nicht ganz klar, was das in ihr auslöste, wie
sie darauf reagieren sollte. Klar schien ihr nur zu sein, dass sie reichlich
durcheinander war, wenn sie an ihn dachte. Sie hatte ihn gehasst, ihn geliebt,
und dann hatte sie ihn wieder nicht mehr geliebt. Über ihn zu grübeln, war wie
immer verwirrend. Ihre Gefühle ihm gegenüber würden wohl immer ein Rätsel für
sie bleiben.
    Seltsam war außerdem, wie ruhig sie sich mit Balthasar
unterhalten, wie gelassen sie neben ihm im Gras sitzen konnte. Der Schrecken,
den er zu verbreiten vermochte, hatte sich aufgelöst – womöglich schon in
jenem Augenblick in dem verstaubten Zimmer, als er mit merkwürdig verträumter
Stimme von den vielen Nachmittagen erzählte, die er mit dem Mädchen auf dem
Gemälde verbracht hatte.
    Forschend richtete Bernina ihre Augen auf ihn. »Weshalb,
Balthasar? Kannst du es mir erklären, weshalb du das alles getan hast?«
    »Getan? Was meinst du?« Er wandte den Blick ab, fast als wäre er
ein kleiner Junge.
    »Weshalb hast du den Befehl deines Herrn nicht befolgt? Weshalb
hast du mich einfach laufen lassen? Und weshalb hast du mich fortgebracht von
dieser Festung?
    »Ich habe mich eben anders entschieden.«
    »Anders entschieden?« Sie musste lächeln. Nicht spöttisch,
vielleicht sogar liebenswürdig. »Warum? Weil du glaubst, ich bin das Mädchen
auf dem Bild? Einfach nur deswegen?«
    Balthasar schnaufte, wie er das oft zu tun schien. Immer noch
hielt er den Blick gesenkt. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Erneut
dieses Schnaufen. »Und ja: nur deswegen. Nur weil dieses Kind auf dem Gemälde
für mich all das bedeutet hat, was ich im Leben verloren habe. Und dann wurde
es auf einmal lebendig. Ich konnte es doch nicht einfach umbringen.« Beinahe
empört stieß er die letzten Worte aus.
    »Balthasar, was hast du verloren?« Bernina achtete darauf, sanft
zu sprechen, nicht eine Antwort zu fordern, sondern zu erbitten.
    »Ach, mir erging es wie so vielen anderen, die den Krieg
kennengelernt haben. Meine Frau und meine vierjährige Tochter starben –
sie hatte langes blondes Haar wie die Kleine auf dem Gemälde. Wie du.« Er sah
sie an und gleich wieder weg. »Sie verbrannten in den Flammen unseres Hauses.
Unser ganzes Dorf wurde nach einer Schlacht bis auf die Grundmauern zerstört.
Ich hatte keine Ahnung, wohin, und so kam ich zur Armee. Ich kämpfte für einen
Herrn, den ich nur ein

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