Das Geheimnis der Krähentochter
auf.
»Schwert und Blume wehen über der Festung, seit ich dort ankam.
Und schon viele Jahre vorher. Es ist das Wappen seiner Familie. Die Blume,
sagte der Graf, steht für die reine, blühende Familie, der er entstammt. Und
das Schwert für all die ruhmreichen Kämpfer, die diese Familie hervorgebracht
hat und immer wieder hervorbringen wird.« Er winkte ab. »Aber so hat er selten
gesprochen. Eigentlich kenne ich nur seinen Befehlston.«
Noch bevor sie aufsaßen, um ihren Ritt
fortzusetzen, fragte Bernina: »Und über den Oberst weißt du also nicht sehr
viel?«
»Nein, ich habe auch keine Ahnung, wie er und Graf della Valle
zueinander stehen. Wahrscheinlich haben sie sich kennengelernt, als der Graf
noch in Diensten des Kaisers stand.«
Bernina hatte einen anderen Verdacht, aber den behielt sie für
sich.
Denn zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es an der Zeit war,
sich einer bestimmten Sache nicht mehr zu verschließen. Jetzt musste sie sich
endlich das fragen, was sie sich ihr ganzes Leben lang eigentlich nie gefragt
hatte. Wer bin ich? Drei Worte, die hinter ihrer Stirn klopften, im selben
Rhythmus, den die Hufe der Pferde vorgaben. Wer bin ich?
Sie hatte es immer hingenommen, dass sie eine Waise war. Ein Kind
ohne Eltern, das irgendwann von irgendwo auf den Petersthal-Hof kam, gebracht
von einer Magd, die bald darauf gestorben war.
Wer bin ich?
Vielleicht war es gerade deshalb falsch, von
der Festung zu fliehen. Vielleicht hätte Bernina genau dort Antworten auf diese
Frage gefunden. Doch es war zu spät. Denn es gab noch etwas anderes, was ihr
Herz festhielt. Es gab Offenburg und Anselmo.
Balthasar und sie ließen den düsteren Wald hinter sich, folgten
weiter dem Weg nach Westen und suchten sich dafür eine ähnlich abgelegene
Strecke wie die, die sie im vergangenen Herbst in umgekehrter Richtung gereist
war. Als Begleitung Melchert Poppels, im Tross des schwer verletzten Jakob von
Falkenberg. Es erschien ihr plötzlich, als wäre das eine Ewigkeit her, so viel
war seitdem geschehen.
Als sie aus ziemlicher Entfernung die eindrucksvolle Burg sahen,
die sich über den Dächern Nürnbergs erhob, sagte Bernina zu Balthasar, er müsse
nicht bei ihr bleiben. »Du kannst deiner Wege gehen, Balthasar. Du hast doch
schon genug für mich getan. Lebe dein Leben, nicht meines. Du brauchst mich
wirklich nicht mehr zu beschützen. Ich werde auf jeden Fall durchkommen.«
Er saß auf dem Pferd, die Gestalt eines wilden Bären, aber wenn er
sie ansah, hatte er weiterhin die Augen eines Jungen. »Gut möglich, dass du es
schaffst, Bernina. Ich weiß, dass du vorsichtig bist und dich abseits der
großen Straßen hältst. Aber wer weiß, was in Offenburg alles auf dich wartet.
Ich habe beschlossen, dir noch eine Weile Gesellschaft zu leisten.
Selbstverständlich nur, wenn du es erlaubst.«
»Ich erlaube es nicht nur, ich freue mich sehr darüber.«
Verlegen senkte er den Blick. »Mich freut es viel mehr.«
»Ich danke dir für deine Begleitung.«
»Nein, ich danke dir. Denn du gibst mir die Hoffnung, dass die
Welt nicht ganz so übel ist, wie ich sie bisher kannte.«
Sie setzten ihren Ritt fort. Einmal kamen sie an einem völlig
ausgebrannten Bauernhof vorbei, der sie daran erinnerte, dass sie sich auf die
Spur des Krieges gemacht hatten. Es roch nach Grauen und Tod, ein Geruch, dem
Bernina auf Schloss Wasserhain so fern gewesen war. In den Trümmern entdeckte
Balthasar einen kleinen Wagen, einen Einachser mit einfachem Holzgestell
darauf. Eines der beiden Räder war kaputt, aber er konnte es reparieren.
Sie spannten Berninas Pferd vor den Wagen und Bernina konnte die
Reise etwas bequemer fortsetzen. Außerdem fanden sie Rüben und mehrere große
Stücke Hartwurst, die die Plünderer offensichtlich übersehen hatten. Das half
ihnen, denn ihre Vorräte neigten sich dem Ende zu, und Balthasar kündigte an,
demnächst einmal in die umliegenden Wälder auf Jagd zu gehen. Das würde nicht
einfach werden, da er nur die Pistole und seine Axt besaß, aber keine Büchse.
Sie kamen gut voran. Der Herbst kündigte sich an, noch begleitet
von warmen Tagen und immer kühleren Nächten, von leichtem Wind und
gelegentlichem Regen. Irgendwann brach die Achse des Wagens. Sie ließen ihn am
Wegesrand zurück und Bernina schwang sich wieder auf den Rücken des Pferdes.
Während sie in leichtem Trab ritten, erzählte
Bernina ihrem schweigsamen Begleiter von sich und Anselmo, von Melchert Poppel
und Eusebio, auch von Oberst
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