Das Geheimnis der Krähentochter
rannte noch schneller, doch sie spürte Verzweiflung in sich
aufsteigen. Über ihr ragte der Turm auf, in den sie eingesperrt gewesen war,
hinter sich hörte sie bereits den Atem der Verfolger.
Dennoch gelangte sie zu dem Punkt an der Mauer, den sie anstrebte.
Sie prallte an die Zinnen und sah den langen, starken Ast einer mächtigen,
viele Meter hohen Eiche, der beinahe bis zum Mauerrand reichte.
Noch ein schneller Blick zu den beiden Männern. Bernina stemmte
sich hoch auf die Mauer. Die Männer waren da, die Hände versuchten nach ihr zu
greifen – doch sie erwischten sie nicht.
Bernina hatte den Sprung gewagt. Sie hing an dem Ast, die harte,
rissige Rinde schnitt in ihre Handflächen, aber sie schaffte es. Sie zog sich
nach oben, stand mit beiden Füßen auf dem Ast, und sofort wurde ihr die Höhe
bewusst. Sie sah, wie auch die Männer auf die Mauer stiegen. Und sie lief los.
Erst gebückt, dann aufrecht, erst langsam, dann schneller, hinweg über den Ast,
immer noch die Verfolger hinter sich. Für einen kurzen Moment fühlte sie keinen
Ast, sondern ein Seil unter ihren Füßen. Sie stellte sich Anselmos Stimme vor,
die ihr das zurief, was sie ihr früher bei vielen Gelegenheiten zugerufen
hatte: Du läufst ganz leicht, wie auf einer Blumenwiese, du schwebst, du bist
im Gleichgewicht, du kannst gar nicht fallen, ganz einfach Schritt für Schritt,
nicht nach unten sehen, sondern auf das Ziel, immer auf das Ziel …
Bernina gelangte zu dem gewaltigen Stamm und sie begann, daran
hinunterzuklettern, immer einen Fuß auf einen Ast setzend, schnell und wendig,
als wäre sie wieder das kleine Mädchen, das an der Seite von Hildegard ausgelassen
durch den Schwarzwald tobte.
Sie ließ sich von einem der untersten Äste
gleiten und landete geschmeidig auf dem weichen Waldboden. Von Neuem rannte sie
los, doch die Männer ließen sich nicht abschütteln. Sie hatten ebenfalls die
Eiche überwunden, und sie gaben nicht auf.
Bernina stürzte auf ein Gestrüpp zu, und als sie es fast erreicht
hatte, spürte sie die Hand, die ihren Arm packte. Es war, als wäre sie gegen
eine Wand gelaufen. Sie wurde zurückgerissen und mit Wucht auf die Erde
geschleudert. Wehrlos lag sie da und starrte in das Gesicht des spitzbärtigen
Mannes, der zu ihr heruntersah.
Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er atmete heftig. »Du bist
wieselflink, das muss ich dir lassen. Aber genützt hat es dir trotzdem nichts.«
Er zeigte ein gemeines Grinsen.
Die Eiche hinter sich zu lassen, hatte den Riesen wesentlich mehr
Zeit gekostet. Jetzt tauchte auch seine große, schwere Gestalt vor Bernina auf.
»Der Graf wird froh sein, wenn wir sein hübsches Vögelchen wieder
zurück in den Käfig bringen«, meinte der Spitzbärtige zu ihm.
»Ich glaube, er hat keine Verwendung mehr für die Frau.«
»Wir werden ja sehen.« Ein lautes Auflachen. »Ich jedenfalls habe
Verwendung für dich, meine Kleine.« Die Blicke des Mannes stachen förmlich in
Berninas Körper.
»Was hast du vor?«, fragte der Riese.
»Was schon, du Idiot. Ein bisschen Spaß haben wir uns doch
verdient. Schließlich haben wir sie ja geschnappt. Oder findest du nicht?«
»Wenn du meinst.«
»Und ob ich das meine.«
Von der Festung waren immer noch die Geräusche des Kampfes zu
hören. Ein Wind strich durch die Bäume.
Der Mann mit dem roten Bart machte einen Schritt auf Bernina zu.
In seinen Augen war ein widerwärtig lüsternes Funkeln.
Bernina sah ihm entgegen.
Dann erwischte ihn die Faust des Riesen. Völlig unvorbereitet, mit
ganzer geballter Kraft. Er verdrehte die Augen und sank bewusstlos in sich
zusammen.
Erstaunt blickte Bernina von ihm zu dem Riesen.
In den winzigen Augen schimmerte Unsicherheit auf. Als wäre er
uneins mit sich, als hätte er mit dem Schlag sich selbst ziemlich überrascht.
Mit einer Hand fuhr er sich durch den Bart. Dann setzte er sich in Bewegung.
Bernina lag nach wie vor am Boden.
Sein gewaltiger Schatten fiel über sie und seine Pranken bewegten
sich auf sie zu.
Kapitel 9
Was der Stein der Wahrheit zeigte
Es handelte sich um keine wirkliche Höhle. Eher um einen Aufwurf
im Erdreich, ein kleines natürliches Refugium, um sich vor der Welt zu
verstecken und durchzuatmen.
Doch an einen Moment der Ruhe war für Bernina immer noch nicht zu
denken. Sie hatte ihren Körper in das winzige Erdloch am Fuße eines Hügels
geschoben und starrte nach draußen in den Wald, in den Himmel, dessen Blau
langsam marmoriert wurde von den ersten
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