Das Geheimnis der Krähentochter
jünger und gesünder, mit hellerem Haar. Nicht
unbedingt freundlicher, aber noch nicht mit diesem tödlichen Blick.«
Bernina strich sich mit der Hand über ihren Unterarm und fühlte
die Gänsehaut. Seit ihrer Ankunft auf der Festung hatte sie die Verbindung zu
diesem Grafen gefühlt.
»Das Wichtigste habe ich dich noch gar nicht gefragt, Balthasar.
Wie heißt der Graf?«
Balthasar lachte auf und fuhr sich durch den Bart. »Ach, er hat
schon so viele Namen getragen. Ich kenne ihn als Graf Pietro della Valle.«
»Nie gehört«, meinte Bernina enttäuscht. Irgendwie hatte sie
gehofft, auf etwas Vertrautes zu stoßen.
»Angeblich stammen seine Vorfahren aus der Toskana. Aber das ist
nur eine Geschichte, davon bin ich überzeugt. Der Graf hat sich schon hinter
vielen Namen und Herkünften versteckt. Hast du das Wort Condottiere schon
einmal gehört?«
»Ja, habe ich«, erwiderte sie nachdenklich und erinnerte sich an
Gespräche und Unterhaltungen, die sie im Palast von Graf Heinbold zu Wasserhain
mitverfolgt hatte. »Condottiere sind Männer, deren Geschäft der Krieg ist.«
»So kann man es ausdrücken. Sie stellen Heere auf und verdingen
sich mit all ihren Söldnern an den Auftraggeber, der am meisten zu zahlen
bereit ist. Sie sind gewissenlos und gierig. Sie sind es, die den Krieg am
Leben erhalten. Ich hasse den Krieg, und ich hasse diese Kriegsherren.«
»Der Graf war einer dieser Condottiere?«
»Ja, er stellte dem Kaiser sich und sein Heer zur Verfügung. Und
obwohl er auch weiterhin ein Mann voller Geheimnisse war, stieg er in der Gunst
des Kaisers. Schließlich wurde er ein Weggefährte und enger Vertrauter des
kaiserlichen Oberbefehlshabers: Wallenstein.«
»Wallenstein? Oberst Falkenberg hat Wallenstein einmal in der
Schlacht das Leben gerettet.« Bernina erinnerte sich genau, wie Melchert Poppel
ihr davon erzählt hatte.
»Das wusste ich nicht. Überhaupt ist mir nicht allzu viel bekannt
über den Oberst. Nur sein Name ist mir vertraut. Aber wer kennt den nicht?«
»Wie ging es weiter mit dem Grafen?«
Inzwischen war der Morgen angebrochen. Es wurde wärmer und der
Himmel zeigte sich in reinem Blau.
»Wie es weiterging? Es muss irgendetwas vorgefallen sein, das den
Grafen della Valle auf einmal äußerst unbeliebt werden ließ. Wie er sich den
Zorn des Kaisers zuzog, das habe ich nie erfahren. Aber angeblich wollte man
ihm den Prozess machen. Er sollte zum Tode verurteilt werden. Und so trat er
die Flucht an. Er tauchte unter, bevor er vor den Richter und den Henker
geschleift werden konnte.«
»Und er wurde nie gefasst.«
»Richtig. Seither ist er ein Vogelfreier, ein Mann, der auf sich
allein gestellt ist, der ohne Verbündete und im Verborgenen agiert. Er sammelte
eine Schar von Verbrechern um sich, geflohene Soldaten, gesuchte Mörder und
Halsabschneider. Mit ihnen durchstreifte er die Lande und ließ einen Beutezug
dem anderen folgen, um dann wieder in irgendeinem Versteck vom Erdboden zu
verschwinden. Zum Beispiel in der Festung im Wald.«
»Ich habe selbst gesehen, wie es ist, wenn er mit seiner Meute
kam. Wenn er wehrlose Opfer töten ließ.«
»Ich wünschte, so etwas wäre dir erspart
geblieben. Andererseits wundert es mich, dass er Menschen umbringen ließ. Nun
ja, außer wenn sie Widerstand leisteten. Ich wusste, dass er auf Beute aus war
und Zerstörung brachte. Auch gestattete er seiner widerlichen Bande zu
vergewaltigen. Aber der Tod von Menschen, das war für gewöhnlich nicht sein
Ziel. Davon hatte er nichts. Die Beute war ihm wichtig. Und das Chaos des
Krieges machte es ihm leicht, seinem grausamen Handwerk nachzugehen.«
Durch diese Worte wurde Bernina wiederum an
ein lang zurückliegendes Gespräch erinnert. Hatte nicht auch die Krähenfrau
davon gehört, dass der Reiter in Schwarz einsam gelegene Höfe überfiel,
plündern und vergewaltigen ließ, aber niemand umgebracht wurde? Nur auf dem
Petersthal-Hof war es anders gewesen. »Und die Flagge? Was bedeuten Schwert und
Blume?«
Balthasar erhob sich und band die Tasche mit dem Proviant und die
Wasserflaschen wieder am Sattel fest. »Bei einer der seltenen Gelegenheiten«,
sagte er, »bei denen der Graf mehr als nur ein paar Worte mit mir sprach,
erzählte er etwas über diese Flagge. Er saß in der Badewanne und gab sich
irgendwelchen Erinnerungen hin. Wenn ich es mir recht überlege: Nur in der
Wanne war er so wie wir anderen, wurde er tatsächlich menschlich.«
»Was hat er erzählt?« Auch Bernina stand
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