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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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dunklen Schatten des nahenden Abends.
    Bernina roch das schwere Aroma des Bodens, sie lauschte in die
Stille und wunderte sich über sich selbst. Darüber, dass sie nicht einfach
davonlief, weiterrannte, immer weiter zwischen den Bäumen hindurch, so weit
fort von der Festung, hinaus aus diesem Wald, so weit, wie ihre Füße sie nur
tragen konnten. Was hielt sie hier, warum blieb sie, obwohl niemand in der Nähe
war, der ihr hätte Einhalt gebieten können? Die Festung mit den kämpfenden
Männern lag ja bereits ein ganzes Stück hinter ihr. Es war wohl einfach ihr
Gefühl, ein tiefer Instinkt, der sie dazu brachte, abzuwarten, sich auf diesen
Mann zu verlassen, vor dem sie doch eigentlich so viel Angst gehabt hatte.
    In den helldunkel gesprenkelten Himmel schoben sich die Umrisse
einer kleinen Schar Vögel. Schwarz kreisten sie in der Luft, wie von Farbe
gezeichnet, um sich dann auf den Ästen eines Baumes niederzulassen. Ihre Augen
schienen die Gegend abzusuchen, bis sie bei der Höhle verweilten. Bernina
erwiderte den Blick der Krähen, und zum ersten Mal kamen ihr diese Geschöpfe
nicht unheimlich vor. Sie einfach zu betrachten, hatte beinahe etwas
Tröstliches.
    Plötzlich erklang das Trommeln von Pferdehufen, und Bernina hielt
den Atem an. Jetzt würde sich entscheiden, ob es richtig gewesen war, sich auf
ihr Gespür zu verlassen. Auf ihr Gespür und auf den Riesen.
    Wie merkwürdig es gewesen war, als er sie
gepackt und hochgerissen hatte, um sie sich mühelos, als würde sie rein gar
nichts wiegen, auf die breite Schulter zu schwingen. Erst versuchte sie,
Widerstand zu leisten, doch sein Arm lag schwer wie ein Baumstamm auf ihr und
presste sie kraftvoll an seinen Körper. Auf dieser breiten, harten Schulter
liegend, sah Bernina die Festung allmählich kleiner werden und nach und nach in
der Dichte des Waldes verschwinden. Sie hätte nicht einschätzen können, wie weit
und wie lange der Riese mit ihr lief, aber irgendwann ließ er sie zu Boden
gleiten. Erneut griffen seine Hände nach ihr, jedoch nur um sie mit
überraschender Sanftheit in dieses Erdloch zu drängen.
    Die ganze Zeit hatte er nichts gesprochen, kein einziges Wort
geäußert, und dann lief er einfach wieder zurück, mit diesen langen Schritten,
die seine ganze Körperkraft offenbarten. Bernina hatte ihm hinterhergeblickt,
verwundert, rätselnd.
    Das Hufgetrappel wurde lauter. Bernina spähte angespannt in den
Wald. Die Krähen erhoben sich krächzend wieder in den Himmel. Bernina erkannte
die Umrisse von zwei Pferden. Nur auf einem davon saß ein Reiter. Es war der
Riese.
    Als er vor der Höhle die Tiere zügelte, näherte Bernina sich ihm.
Er hielt ihr die Zügel des zweiten Pferdes hin, sodass sie nach dem Leder
greifen konnte.
    »Warum tust du das? Was hast du vor?«
    Keine Antwort.
    »Nenn mir wenigstens deinen Namen.«
    »Balthasar.«
    »Ich heiße Bernina.«
    »Ich will nicht, dass dir etwas passiert«, fand er nun doch ein
paar leise Worte.
    »Aber was ist mit dir? Was du tust, könnte sehr gefährlich für
dich werden. Wenn der Graf …«
    »Ich will nicht mehr in dieser Festung
bleiben. Ich will endlich fort von hier. Das wurde mir erst klar, als du hier
aufgetaucht bist und ich den Befehl erhielt, dich zu töten.« Schwer atmete er
aus. »Da wusste ich, dass ich diesen Befehl nicht ausführen würde.«
    »Wie steht es jetzt um die Festung?«
    »Die Männer des Grafen haben sich ins obere Stockwerk
zurückgezogen und werden von den Soldaten belagert. Jedenfalls sah es für mich
so aus, ich habe nicht versucht, in die Festung zu gelangen. Ich wollte Pferde,
schlug zwei Soldaten bewusstlos, die auf sie aufpassten, und nahm mir die
beiden Tiere, die am stärksten aussahen.« Wieder sein schweres Atmen. »Lass uns
diesen Ort gemeinsam verlassen. Ich werde dafür sorgen, dass du in Sicherheit
bist.«
    Ohne ein weiteres Wort brachen sie auf. Sie ritten hinein in die
Dämmerung, der große Mann voran, Bernina dichtauf, durch die Wälder und über
die Hügelkuppen, die sie von ihrem Turmfenster aus betrachtet hatte – ohne
Hoffnung, aus diesem beklemmenden Bauwerk jemals entkommen zu können.
    Der Abend ging, die Nacht kam, und sie ritten noch immer, wegen
der schlechten Sicht nun deutlich langsamer. Die Pferde waren ausdauernd und kräftig.
Der Wald hatte noch kein Ende gefunden, doch die Bäume standen nicht mehr ganz
so dicht beieinander. Die Luft war kühl. Erst als schon fast der neue Morgen
heraufzog, erhielten die Tiere Gelegenheit

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