Das Geheimnis der Krähentochter
Falkenberg und der Zeit auf Schloss Wasserhain.
Sie schilderte, dass sie Anselmo bereits aufgegeben hatte und er nun in
gewisser Weise von den Toten auferstanden war. Auch wenn sie das erst zu
glauben bereit war, wenn sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen
würde.
Nachdenklich hörte Balthasar zu, und dann eröffnete er ihr, dass
er nun umso erfreuter sei, ihr zu helfen. »Im Krieg«, erklärte er, »ereignen
sich schlimme Geschichten. Geschichten voller Unglück. Vielleicht habe ich die
Chance, etwas dazu beizutragen, dass du mehr Glück hast als viele andere
Menschen.«
Bernina dankte ihm erneut, doch er nickte nur. Er dachte wohl bei
diesen Worten an seine tote Familie.
Weiterhin achteten sie darauf, keinen Menschen zu begegnen.
Verborgen hinter Büschen und Wiesen, sahen sie Züge verzweifelter Leute, die
sich auf der Flucht vor dem Krieg befanden, oder kleinere Einheiten von
Soldaten, die den Krieg suchten. Und ebenfalls nur aus der Ferne betrachteten
Bernina und Balthasar die Dörfer, die dennoch grausige Einzelheiten allzu
deutlich sichtbar werden ließen: Einmal sahen sie vor dem Hintergrund
brennender Häuser und Ställe die Köpfe Hingerichteter, die an die Türme einer
Flussbrücke genagelt worden waren.
Doch selbst solche Anblicke ließen Bernina nicht innehalten, nicht
für einen einzigen Moment an ihrem Weg zweifeln. Je näher sie ihrem Ziel kam,
desto stärker wurde ihre Anspannung. Eine weitere Nacht brach an, mit
schleichender Dunkelheit und aufbrausenden Windböen, und diesmal schoben
Bernina und Balthasar die Rast lange hinaus. Erst als sich bereits der Morgen
ankündigte, und die Mäuler der Pferde von Schaum umkränzt waren, banden sie sie
an einem Baum fest, um ihnen Ruhe zu gönnen.
Behutsam durchquerten Bernina und Balthasar ein Waldstück, jeden
Schritt vorsichtig setzend, so leise wie nur möglich. Sie erreichten das Ende
des Waldes, und der zögerlich hell werdende Horizont ließ vor ihren Augen die
Stadt sichtbar werden. »Offenburg«, sagte Balthasar leise. »Wir sind fast da.«
Bernina nickte. Sie presste die Lippen hart aufeinander. Über
ihren Köpfen zogen ein paar Krähen in tiefem Flug hinweg.
*
Diese Stadt hielt den Atem an, das war deutlich zu spüren. In der
Stille, die auf ihr lastete, lagen Beklemmung und Furcht – eine Stille,
die das bevorstehende Tosen des Krieges nur umso gewisser erscheinen ließ. Die
Häuser von Offenburg stießen mit ihren spitzen Dächern in den Nebel, der auf
einmal ganz dicht geworden war und sich dem Licht des kommenden Tages
entgegenstellte. Ein Morgen wie im tiefsten Herbst, obwohl der Sommer noch
nicht vorüber war.
Seit eines ganz bestimmen Tages auf dem
Petersthal-Hof hatte Nebel für Bernina immer etwas Unheimliches ausgestrahlt.
Jetzt allerdings war sie froh darum. Seine weißen Schleier schützten sie und
Balthasar vor den Augen der Wachen, die jeweils zu zweit und in festen
Abständen vor dem großen Schutzwall patrouillierten. Schon in Ippenheim hatte
Bernina einen solchen Wall gesehen, eine große Wand aus Wagen, gefällten
Baumstämmen und mit Erde gefüllten Hafersäcken, aus allerlei Plunder und Unrat.
Bereits vor Kurzem waren die Armeen des Kaisers und ihre
protestantischen Gegner an den Rheinufern aufeinandergeprallt. Heftig geführte
Kämpfe, etliche Tote, jedoch noch keine Entscheidung. General von Korth hatte
sich daraufhin mit seinen kaiserlichen Truppen nach Offenburg zurückgezogen und
dort verschanzt. Nun wartete man auf den nächsten Angriff, den nächsten Versuch
des beharrlichen, nimmermüden Arnim von der Tauber, den Anhängern des Kaisers eine
entscheidende Niederlage beizubringen.
»Dass die Sicht so schlecht ist«, meinte Balthasar flüsternd zu
Bernina, »ist gut für uns. Außerdem ist das die Zeit des Tages, an der die
Müdigkeit am stärksten ist. Das kenne ich noch allzu gut. Die Nachtwachen
sehnen sich jetzt bloß noch nach Ablösung, um sich aufs Ohr legen zu können.«
Im Schutz des Walls verharrten sie. Sie hielten Ausschau nach den
Soldaten, aber es war keiner zu entdecken.
»Warum bestehst du darauf«, wollte Balthasar mit leiser Stimme
wissen, »dass wir uns in aller Heimlichkeit Zugang zur Stadt verschaffen?
Selbst wenn die Wachposten uns erwischen, könnten wir ihnen einfach erklären,
dass wir zum Lazarett dieses Arztes unterwegs sind.«
»Nein, es bleibt dabei: Wir müssen vorsichtig sein.« Berninas
Blick richtete sich auf die ersten Gebäude von Offenburg. »Wenn
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