Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
Vom Netzwerk:
genommen hat.«
    »Das weiß ich, Bernina.«
    »Lasst uns nicht noch mehr Zeit verlieren«, drängte jetzt auch
Balthasar.
    Mit einem kurzen entschlossenen Blick verständigten sie sich, dann
liefen sie los. Sie folgten engen leeren Kopfsteingassen, einer nach der
anderen, bevor sie auf einmal auf eine breitere Straße stießen, in der das
blanke Chaos herrschte. Überall Feuer, deren Flammen nach ihnen spuckten. Der
Gestank von Pulver. Leichen, kämpfende Soldaten, fliehende Menschen, die aus
ihren Verstecken aufgescheucht wurden. Verschreckte Tiere rannten kreuz und
quer, Hunde, Hühner, sogar mehrere Schweine. Der Himmel über Offenburg färbte
sich am hellen Tag dunkel von all den schwarzgrauen Qualmwolken.
    Die beiden Männer rechts und links von ihr, Bernina in der Mitte,
so bahnten sie sich zu dritt ihren Weg. Von der Straße wieder in kleine
Seitengassen, vorbei an einer Kirche, vorbei an einem großen Brunnen, hinein in
die nächste Gasse.
    Bernina sah, wie sehr es Poppel anstrengte. Seine Schritte wurden
kürzer, Schweiß stand auf seiner Stirn, die Lippen waren blutleer. Sie hörte
ein Rasseln in seinen Lungen. Auf einmal wies er nach vorn. Über den Dächern
der Häuser erschien im Qualm die Silhouette eines ziemlich hohen, turmartigen
Gebäudes.
    Poppel war froh, dass sie innehielten. »Dort müssen wir hin. Das
ist ein Vorratsturm, in dem früher alles Mögliche gelagert worden ist. Jetzt
dient er mir als Lazarett.«
    »Also los, nichts wie weiter«, meinte Balthasar, doch Bernina
hielt ihn mit einem unauffälligen Blick auf. Sie mussten dem Arzt zumindest ein
bisschen Zeit geben, damit er verschnaufen konnte. Poppel japste nach Luft, er
keuchte, hustete, sodass Bernina an seine Seite sprang, um ihn zu stützen.
    Dann packte Balthasar zu. Kurzerhand bettete er den Arzt in seine
starken Arme, ohne auf dessen Proteste zu hören.
    »Schnell«, sagte er zu Bernina. »Verdammt viele Einschläge hier.«
    Er hatte recht. Kanonenkugeln krachten in Hausdächer und Mauern.
Verzweifelte Schreie, wiederum rennende Menschen, noch mehr Feuer.
    Nebeneinander folgten sie der Straße, den Turm immer im Blick.
Balthasar war trotz der Last des Arztes ebenso schnell wie zuvor.
    Nach der nächsten Kreuzung sahen sie zum ersten Mal den Eingang
des quadratisch angelegten Turmes, dessen drittes, oberstes Stockwerk von einem
Spitzdach abgedeckt wurde.
    »Wir müssen es schaffen!«, rief Bernina entschlossen. »Wir
müssen!«
    Balthasar geriet ins Straucheln und fiel. Er und der Arzt lagen
auf dem Kopfsteinpflaster, aber beide kamen sie rasch wieder auf die Beine, und
jetzt wich Poppel den großen Händen aus. »Lass mich! Ich habe meine eigenen
Beine!«
    Bernina erreichte den Eingang zuerst. Mit
letzter Kraft warf sie sich gegen die Holztür, die sofort aufsprang. Kopfüber
stürzte sie in das Gebäude und landete hart auf einem kalten, gestampften
Lehmboden. Gleich darauf war Balthasar bei ihr, um ihr wieder aufzuhelfen.
Währenddessen hatte Poppel die Tür zugezogen.
    »Geschafft«, stöhnte der Arzt auf. Er ließ sich an der Tür
hinabgleiten, bis er auf dem Boden saß und die Beine ausstrecken konnte. Auf
seinen Wangen glänzte der Schweiß, seine Hände zitterten.
    »Wo ist Anselmo?«, rief Bernina, die ihre Erschöpfung gar nicht
registrierte. »Wo ist Anselmo?«
     
    *
    Erst das Prasseln eines heftigen Spätsommerregens, der wie aus dem
Nichts heraufgezogen war, gebot der Schlacht Einhalt. Bernina bemerkte nicht
das Geringste davon. Sie befand sich in einem kleinen Zimmer im ersten Stock
des Turms. Doch auch diesem Raum und der kärglichen Einrichtung darin hatte sie
keine Beachtung geschenkt.
    Sie hatte nur Augen für Anselmo. Neben dem
Strohlager kniend, lauschte Bernina seinen leisen Atemzügen. Und immer wieder
ließ sie ihren Blick über seine Züge, seine Gestalt wandern, als ob sie ihren
Augen nicht trauen könnte. Schon bei ihrem Eintreten hatte sie erkannt, dass
schwere Zeiten hinter ihm liegen mussten. Seine Haare waren von vereinzelten
grauen Strähnen durchzogen, seine Gestalt hager und seine Gesichtszüge
ausgezehrt.
    Sie streichelte ihn zärtlich.
    Erst nach einer langen Zeit blickte Bernina sich im Zimmer um. Sie
sah eine Truhe, ein Regal unter dem einzigen, rund in den Turm eingelassenen
Fenster und zwei Schemel, die an einem Tisch standen. Darauf lagen die
Instrumente und Utensilien des Arztes verstreut herum. In der
gegenüberliegenden Ecke entdeckte sie eine weitere Schlafstelle aus Stroh, wohl
die von

Weitere Kostenlose Bücher