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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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intellektuellen Lichtes. Nie war er geneigt, Milde walten zu ­lassen. Sein Verstand verlief in vollkommen geraden Linien und bog niemals nach rechts oder links. Für ihn war ­richtig immer richtig, und falsch war falsch. Er hatte seinen ­einzigen Sohn verstoßen, weil dieser ihm den Gehorsam verweigert hatte, und er war durchaus fähig, seine einzige Tochter innerhalb von fünf Minuten aus dem gleichen Grund davonzujagen. Er war stolz auf jene unbeirrbare Halsstarrigkeit, die kein Gefühl wie Liebe oder Mitleid je hatte ­beeinflussen ­können. Ja, und er war eingebildet, was die Kraft ­seines Charakters anbelangte. Wobei Stolz und Eitelkeit den inneren Kern dieses Charakters ­bildeten, so wie auch Junius Brutus stolz und eitel war. Jener Junius Brutus, der den Beifall des in Ehrfurcht erstarrten Roms genoss, als er die Hinrichtung seiner eigenen Söhne ­anordnete.
    „Mein Sohn hat mir ein unverzeihliches Unrecht ­angetan, als er die Tochter eines betrunkenen Habenichts geheiratet hat“, pflegte Harcourt Talboys zu sagen und fügte hinzu, dass er somit keinen Sohn mehr habe.
    George selbst hatte niemals den Versuch unternommen, das Urteil seines Vaters zu mildern. Er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass dies hoffnungslos war.
    Und so sank Robert Audley das Herz in die Brust, als die Kutsche vor einer vergitterten Umzäunung anhielt. Der Kutscher stieg ab, um ein breites Eisentor aufzustoßen. Eine Auffahrt führte zwischen hochgewachsenen Bäumen hindurch zu dem Gebäude aus rotem Backstein, dessen Fenster im Januarsonnenlicht glänzten und blitzten, als seien sie gerade erst von einem unermüdlichen Haus­mädchen geputzt worden. Der Rasen vor dem Haus wurde hier und da durch düstere immergrüne, an einen Friedhof gemahnende Büsche aufgelockert. Eine Steintreppe führte zur halbverglasten Tür der Halle.
    Dort angekommen, stieg der Kutscher vom Bock, ging die Stufen hinauf und bediente eine Messingklingel, die mit zornigem Klang in ihr Gehäuse zurückschnappte. Ein Mann in schwarzer Hose und gestreifter Leinenjacke ­öffnete die Tür. – Ja, Mr Talboys sei zu Hause. Wünsche der Gentleman, seine Karte abzugeben?
    Robert wartete in der Halle, während seine Visitenkarte dem Herrn des Hauses überbracht wurde. Die Halle war geräumig, hatte eine hohe Decke und einen Steinfuß­boden. Die Paneele der Eichentäfelung erstrahlten in dem ­gleichen hartnäckigen Glanz, der sich auf jedem Gegenstand innerhalb und außerhalb des roten Backstein­gebäudes wiederfand. Robert Audley sah sich um.
    Kurz darauf kam der Diener zurück. „Wenn Sie näher treten wollen, Sir“, sagte er. „Mr Talboys wird Sie ­empfangen, obwohl er beim Frühstück ist. Er bat mich, darauf hinzuweisen, dass er der Meinung sei, jedermann in Dorsetshire kenne seine Frühstückszeit.“
    Dieser Hinweis war zweifellos als Rüge für Mr Robert Audley gedacht. Sie zeigte jedoch nur sehr wenig ­Wirkung bei dem jungen Advokaten, der seine Augenbrauen in die Höhe zog. „Ich gehöre nicht zu den Bewohnern ­Dorsetshires“, entgegnete er. „Mr Talboys hätte das wissen müssen, wenn er mir die Ehre erweist, seine ­logische Denkfähigkeit zur Anwendung zu bringen.“
    Der Mann sah Robert mit völligem Entsetzen an, doch dann öffnete er eine der Eichentüren und schritt in das große Speisezimmer. Dieses war mit der strengen Einfachheit eines Raumes ausgestattet, der allein dazu ausersehen ist, dass man darin isst, aber keinesfalls in ihm lebt.
    Am oberen Ende der Tafel saß Mr Harcourt Talboys. Der Hausherr war mit einem Morgenmantel aus grauem Tuch bekleidet. Einem erwartungsgemäß streng ­aussehenden Kleidungsstück, das vielleicht die größtmögliche Ähnlichkeit mit einer Toga aufwies, die bei zeitgenössischer Bekleidung überhaupt zu erzielen war. Das kalte Grau ­seines Morgenrocks war beinahe von gleicher Schattierung wie das frostige Grau seiner Augen, und der blasse Ton seiner Weste entsprach seiner fahlen Gesichtsfarbe.
    Robert hatte eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen Vater und Sohn erwartet, doch da gab es keine. Es war kaum möglich, sich jemanden vorzustellen, der George unähnlicher war als dieser Mann. Robert wunderte sich nun nicht mehr über den hartherzigen Brief, den er von Mr Talboys erhalten hatte, als er dessen Verfasser sah. Ein solcher Mann konnte wohl schwerlich in anderer Weise schreiben.
    Flüchtig sah Robert hinüber zur Fensternische, nachdem er Harcourt Talboys begrüßt hatte. Er

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