Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
mich.“
Der Junge schnitt eine Grimasse. „Ich esse nie Brot, und Milch trinke ich nicht“, erklärte er. „Ich mag lieber etwas Herzhaftes, wie Großpapa es nennt.“ Das Kind wandte sich an den Kellner. „Ich hätte gern ein Kalbskotelett. Bitte, kann ich ein Kalbskotelett haben, mit Ei und Brotkruste? Und etwas Zitronensaft.“ Dem Anwalt erklärte der Kleine: „Großpapa kennt den Koch hier. Der Koch ist ein so netter Herr. Er hat mir einmal einen Schilling geschenkt, als Großpapa mich mit hierher genommen hat.“
Entgeistert starrte Robert den Jungen an. Was sollte er mit diesem kleinen Feinschmecker tun, der Brot und Milch zurückwies und Kalbskoteletts verlangte?
„Ich sage dir, was ich mit dir tun werde, Georgey!“, sagte er nach kurzer Überlegung lächelnd. „Ich werde dir ein ordentliches Dinner bringen lassen.“ Er sah, wie der Kellner beflissentlich nickte. „Zuerst etwas Gemüsesuppe, dann geschmorten Aal, Koteletts, Geflügel und zum Abschluss einen Pudding. Was hältst du davon, Georgey?“ Der Junge nickte begeistert und der Kellner eilte davon, um die Bestellung dem Koch zu überbringen.
Master Georgey sprach dem von Robert bestellten Dinner tüchtig zu. Er trank dermaßen viel Bass Ale, dass sein Gastgeber einigermaßen beunruhigt war. Er unterhielt sich außerordentlich gut und bekundete eine hohe Wertschätzung für gebratenen Fasan mit Brotsauce. Um acht Uhr wurde zu seiner Bequemlichkeit ein Einspänner vorgefahren, in dem der Junge in bester Stimmung davonzog. In seiner Tasche hatte er einen Sovereign sowie einen Brief von Robert an Mr Marchmont, der einen Scheck zur Begleichung der Kosten für die Ausstattung des jungen Herrn enthielt.
„Ich bin froh, dass ich endlich neue Kleider bekomme“, erklärte der Junge, als er sich von Robert verabschiedete. „Mrs Plowson hat die alten schon so oft gestopft. Sie kann sie nun für Billy haben.“
„Wer ist Billy?“, fragte Robert, der über das eifrige Geplapper des Kindes lachen musste.
„Billy ist der kleine Bruder der armen Mathilda und ...“ Doch in diesem Moment knallte der Kutscher mit der Peitsche und das alte Pferd trabte davon. So erfuhr Robert Audley nichts über Billy und Mathilda.
Lange blickte er der Kutsche nach. Gleich am nächsten Morgen würde Robert Harcourt Talboys in Dorsetshire aufsuchen.
4. Kapitel
R obert Audley verließ Southampton mit dem Zug, der bereits vor Tagesanbruch abfuhr, und erreichte Wareham in Dorsetshire früh am Vormittag, wo er sich eine Kutsche mietete, die ihn nach Grange Heath bringen sollte.
Der Tag war klar und frostig und der Schnee auf dem Boden hart. Jeder Gegenstand in der Landschaft hob sich in scharfen Umrissen gegen den kalten blauen Himmel ab. Die Hufe des Pferdes schlugen auf einen eisharten Boden. Der winterliche Tag zeigte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mann, den Robert aufzusuchen beabsichtigte: Harcourt Talboys, der nur die strengste Seite einer Wahrheit akzeptierte und der ungläubigen Welt gern laut verkündete, dass es niemals irgendeine andere Seite geben könne.
Mr Harcourt Talboys lebte in einem nüchternen quadratischen Haus aus rotem Backstein, das nur eine knappe Meile von dem kleinen Dörfchen Grange Heath entfernt war. Man hatte sich bisher nicht die Mühe gemacht, dem Anwesen einen wohlklingenden und würdigen Namen zu geben. Daher nannten die Leute Haus und Land nur „Squire Talboys’ Besitz“. Jedoch war Mr Harcourt Talboys wohl der allerletzte Mensch auf dieser Welt, den man mit dem altehrwürdigen Titel „Squire“ in Verbindung bringen konnte. Weder war er leidenschaftlicher Jäger noch betrieb er Landwirtschaft. Südliche Winde oder ein bewölkter Himmel waren ihm im höchsten Maße gleichgültig, solange sie nicht in irgendeiner Weise seine Lebensgewohnheiten beeinträchtigten. Er interessierte sich nur insofern für den Zustand des Getreides, als damit eine mögliche Gefahr für die Pachteinkünfte verbunden sein konnte, die er von den Farmern auf seinem Besitz erwartete.
Harcourt Talboys war ungefähr fünfzig Jahre alt, knochig und hager und von kerzengerader Statur. Er hatte ein eckiges, blasses Gesicht, hellgraue Augen und schütteres dunkles Haar, das er von beiden Ohren aus hoch über seinen kahlen Scheitel bürstete, was seiner Physiognomie eine gewisse Ähnlichkeit mit der eines Terriers verlieh. Er betrachtete alle Dinge im Leben in dem gleichen, alles erfassenden, grellen Schein seines
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