Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Zeit ist nun gekommen, da ich ganz offen mit Ihnen reden muss.“ Er sah ihr fest in die Augen, die vor Angst weit aufgerissen waren. „Ihre Jugend und Schönheit werden Sie nicht vor der Strafe verschonen. Ich versichere Ihnen, dass der Beweiskette gegen Sie nur noch ein Glied fehlt, um sie stark genug für Ihre Verurteilung zu machen. Und dieses Glied wird hinzugefügt werden.“
Die Frau warf ihre Hände vor ihr Gesicht. „Was beweist das schon? Es beweist nur, dass Sie verrückt sind, Mr Audley!“, schrie Mylady. „Mein Mann wird mich vor Ihrer Unverschämtheit beschützen.“
„Es gibt weitere Beweise.“
„Welche?“
„Zwei Etiketten, die übereinander auf einer Hutschachtel klebten, die Sie, Mylady, im Besitz von Mrs Vincent zurückließen. Das obere Etikett trägt den Namen von Miss Graham und das untere den von Mrs George Talboys.“
Robert Audley vermochte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht zu erkennen, doch er konnte sehen, dass ihre Hände zitterten. Da wusste er, dass der Schuss ins Schwarze getroffen hatte. Gott helfe ihr, der armseligen, elenden Kreatur, dachte er, denn die neue Identität überführte sie auch des Mordes an ihrem ersten Mann.
Minutenlang ging er stumm neben der Frau und beobachtete, wie sie mit sich rang, fieberhaft einen Ausweg suchte. Sie waren in der dämmrigen Allee auf und ab gewandert und näherten sich nun dem entlaubten Gebüsch am Ende der Lindenallee. Ein verwahrloster Weg, der sich zu einem Brunnen schlängelte, tat sich vor ihnen auf. Robert verließ die Allee und bog in diesen Weg ein, wo es heller war, da hier keine hohen Bäume standen. Er wollte Myladys Gesicht sehen. Als sie den alten, auseinandergebrochenen Brunnen nahe der alten Mauer erreicht hatten, hatte Mylady noch immer kein Wort gesagt.
„Diese beiden Etiketten befinden sich in meinem Besitz“, nahm Robert das Gespräch wieder auf. „Ich entfernte sie in der Gegenwart von Zeugen. Haben Sie gegen diesen Beweis einen Gegenbeweis anzubieten?“
Da hob sie ihren Kopf und lächelte ihn an, wie Robert verwirrt feststellte. „Oh, ja!“, sagte Mylady mit fester Stimme. „Säße ich auf der Anklagebank, dann könnte ich ohne Zweifel Zeugen beibringen, die Ihre absurde Beschuldigung widerlegen. Aber ich sitze nicht auf der Anklagebank, Mr Audley, und ich gedenke, nichts anderes zu tun, als über diesen lächerlichen Unsinn zu lachen. – Ich sage Ihnen, Sie sind verrückt, Sir! Wenn es Ihnen beliebt zu behaupten, dass Helen Talboys nicht tot und ich Helen Talboys sei, dann tun Sie es nur. Doch ich muss Sie warnen, Mr Audley, dass derartige Hirngespinste mitunter Menschen, die scheinbar so gesund sind, wie sie wirken, lebenslange Gefangenschaft in einem privaten Irrenhaus eingetragen haben.“
Irritiert blickte Robert Audley die Frau an, die eben noch ängstlich und zerbrechlich neben ihm gegangen war und ihm nun unverhohlen drohte. Und ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte ihn: Sie wäre dazu fähig, ihren Einfluss bei Sir Michael geltend zu machen, um ihn, den verrückten Neffen, in ein Irrenhaus sperren zu lassen!
Robert sah sich um. Der verlassene Garten lag so still wie ein einsamer Friedhof da, von Mauern umgeben und verborgen vor der Welt der Lebenden. „Es war irgendwo in diesem Garten, wo sie George Talboys trafen, nicht wahr?“, fragte er, ohne auf ihre Worte einzugehen oder die Frau anzusehen. „Ich frage mich, wo er in ihr grausames Gesicht blickte und Sie der Falschheit bezichtigte.“ Er drehte sich zu Mylady um. „Wo er starb!“
Mylady spielte mit ihrem hübschen Fuß zwischen den hohen Gräsern und lächelte ihn mädchenhaft und unschuldig an.
„Es wird also ein Zweikampf bis zum bitteren Ende werden, Mylady“, sagte Robert ernst. „Sie weigern sich, meine Warnung anzunehmen. Sie ziehen es vor, hier auszuharren und mir die Stirn zu bieten.“
„Ja“, erwiderte Lady Audley. „Es ist nicht mein Fehler, wenn der Neffe meines Mannes verrückt wird und mich zum Opfer seiner Wahnidee auserwählt hat.“
„Ich glaube, dass George innerhalb der Grenzen dieses Gartens seinen Tod fand und dass sein Leichnam in einer vergessenen Ecke dieses Parks versteckt liegt. Ich werde eine Suche veranlassen, Mylady. Wenn es sein muss, wird dieses Haus dem Erdboden gleichgemacht! Ich werde jeden Baum in diesen Gärten entwurzeln lassen, um das Grab meines ermordeten Freundes zu finden. Das schwöre ich!“
Lady Audley stand da und starrte Robert Audley an. Ihr
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