Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Wahnsinnige aufführst, nur weil du glaubst, er sei in Gefahr? – Woher weißt du, dass das Feuer in Mount Stanning ist? Du siehst einen roten Schein am Himmel und schreist sofort, dass deine armselige Hütte in Flammen steht. Als ob es keinen anderen Ort auf der Welt gäbe, an dem es ebenso brennen könnte. Das Feuer kann in Brentwood oder weiter entfernt sein ... oder in Romford oder noch weiter weg ... vielleicht auf der östlichen Seite von London. – Steh auf, du verrückte Person!“
„Oh, Mylady, vergeben Sie mir!“, schluchzte Phoebe. „Ich hätte so etwas niemals sagen dürfen!“
Doch Mylady schritt in der Dunkelheit davon und ließ Phoebe Marks auf dem harten Boden zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihre Beine trugen sie ohne ihren Willen. Sie wusste, sie hätte Phoebe im Castle Inn lassen sollen. Ihr Herz war zu milde, viel zu milde, entschied Lady Audley. Doch Phoebe war ihr treu. Wie hätte sie sie ...
Sir Michaels Frau eilte davon, dem Haus entgegen, in dem ihr Ehemann schlief, während hinter ihr ein roter Schein den Himmel erhellte und vor ihr nichts als die Schwärze der Nacht war.
2. Kapitel
A m nächsten Morgen frühstückten Sir Michael und seine Frau in der Bibliothek an einem runden Tisch, der dicht an das lodernde Feuer herangeschoben worden war. In einer Morgenrobe aus zartem Musselin, kunstvoller Spitze und Stickereien war Lady Audley erlesen gekleidet, und so bemerkte niemand die Blässe in ihrem Gesicht.
Der Märzmorgen war unfreundlich und trübe. Unaufhörlich fiel der Nieselregen. Er verdunkelte die Landschaft und löschte jegliche Entfernung aus. In der Morgenpost waren nur sehr wenige Briefe gewesen, und die Tageszeitungen kamen erst am Mittag. Da also diese Hilfsmittel zur Förderung einer Unterhaltung fehlten, wurde am Frühstückstisch kaum gesprochen.
Missmutig blickte Alicia hinaus in den Regen, der gegen die großen Fensterscheiben getrieben wurde. „Kein Ausritt heute“, klagte sie. „Keine Aussicht auf irgendwelche Besucher, die uns aufmuntern könnten, es sei denn, dieser lächerliche Robert kommt durch den Regen von Mount Stanning hierher geschlichen.“
Mylady riss den Kopf hoch und starrte Alicia Audley an. Doch sie schwieg.
„Ja, er wird vielleicht im Regen hierher kommen“, fuhr die junge Dame fort. „Und er wird uns langweilen. So unendlich langweilen.“
Während seine Tochter so von ihrem Cousin redete, beobachtete Sir Michael sie mit nachdenklichem Gesicht. Sie sprach sehr häufig von seinem Neffen, machte sich über ihn lustig und zog mit nicht sehr maßvollen Worten über ihn her. „Was glaubst du, hat Major Melville mir erzählt, als er gestern hier war, Alicia?“, fragte Sir Michael seine Tochter.
„Ich habe nicht die entfernteste Ahnung, Papa“, erwiderte Alicia. „Vielleicht sagte er Ihnen, dass wir über kurz oder lang den nächsten Krieg haben werden, bei Gott, Sir. Oder aber er erklärte Ihnen, dass wir ein neues Kabinett haben sollten, bei Gott, Sir, weil diese Burschen sich immer mehr in den Schlamassel setzen, Sir. Oder er meinte, dass diese anderen Burschen in der Armee ständig dieses reformieren, jenes einschränken und wieder etwas anderes verändern, bis wir, bei Gott, Sir, überhaupt keine Armee mehr haben ...“
„Du bist frech, Miss“, maßregelte der Baron. „Major Melville hat mir nichts dergleichen erzählt. Doch er berichtete mir, dass ein sehr ergebener Bewunderer von dir, ein gewisser Sir Harry Towers, seinem Haus in Hertfordshire und seinem Jagdstall den Rücken gekehrt und sich für eine zwölfmonatige Reise auf den Kontinent begeben hat.“
Bei der Erwähnung ihres alten Verehrers stieg Miss Audley plötzlich die Röte ins Gesicht. „Er ist also auf den Kontinent gereist“, antwortete sie scheinbar gleichgültig. „Nun, er hat mir gesagt, dass er das zu tun gedenkt ... sollte ... sollte nicht alles nach seinen Wünschen laufen. Der arme Kerl! Er ist ein netter, gutherziger, einfältiger Bursche und zwanzigmal mehr wert als dieser wandelnde patentierte Gefrierkasten, Mr Robert Audley.“
„Ich wünschte, Alicia, du würdest nicht so viel Vergnügen daran finden, dich über Bob lustig zu machen“, meinte Sir Michael mahnend. „Bob ist ein sehr guter Junge, und ich habe ihn so gern, als wäre er mein eigener Sohn, und ... ich bin in letzter Zeit seinetwegen äußerst beunruhigt. Er hat sich während der vergangenen Tage sehr verändert und sich alle möglichen absurden
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