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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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Ideen in den Kopf gesetzt. Mylady hat mich, was ihn betrifft, unsicher gemacht. Sie glaubt ...“
    Lady Audley unterbrach ihren Mann mit ernstem Kopfschütteln.
    „Ja“, erwiderte Alicia. „Ich weiß, Mylady ist der ­Meinung, dass Bob allmählich verrückt wird. Doch ich weiß es ­besser. Er ist ganz und gar nicht der Typ, der ­verrückt wird. Wie sollte sich auch ein derart träger ­Langweiler mit einem Geist wie dem seinen je in einen stürmischen Ausbruch hineinsteigern?“
    Sir Michael gab darauf keine Antwort. Seine Unterredung mit Mylady am vergangenen Abend hatte ihn sehr betroffen gemacht, und er hatte seitdem über dieses schmerzliche Problem immer wieder nachgedacht. Seine Frau hatte ihm mit allen Anzeichen des Bedauerns und der Bestürzung von ihrer Überzeugung erzählt. Und er bemühte sich, sich einzureden, dass Mylady fehlgeleitet worden sein müsse und keinen Grund für das habe, was sie sage.
    Der junge Mann war zweifellos immer exzentrisch gewesen. Er war verständig, einigermaßen gescheit, ­redlich und ehrenhaft in seiner Gesinnung, obwohl vielleicht ein wenig nachlässig bei der Erfüllung gewisser unbedeutender, gesellschaftlicher Pflichten. Und ­wiederum stimmte es, dass er sich in der Zeit, die auf George Talboys’ Verschwinden gefolgt war, sehr verändert hatte. Er war nachdenklich, melancholisch und geistesabwesend geworden, hatte sich von der Gesellschaft ferngehalten und stunden­lang irgendwo gesessen, ohne ein Wort von sich zu geben. Zu anderen Zeiten hatte er sich dann und wann in die Unterhaltung eingemischt und sich bei Diskussionen über Themen, die eigentlich weit außerhalb des Bereiches ­seines eigenen Lebens und seiner Interessen lagen, ungewöhnlich ereifert.
    Da Alicia ein hübsches und liebenswürdiges ­Mädchen war, so argumentierte Sir Michael, war es eigentlich ­merkwürdig und äußerst unnatürlich von Robert ­Audley, sich nicht, wie es sich gehörte, in sie zu verlieben. Sir Michael konnte es einfach nicht verstehen, warum die beiden nicht eine sehr respektable Ehe zustande bringen sollten.

    An diesem trostlosen, verregneten Morgen saß Sir Michael nach dem Frühstück in der Bibliothek vor dem Feuer, schrieb Briefe und studierte die Zeitungen. Alicia zog sich in ihre eigenen Räume zurück.
    Lady Audley unterdes versperrte die Tür des acht­eckigen Vorzimmers und wanderte in ihren Gemächern vom Schlafzimmer zum Boudoir und zurück. Sie hatte die Tür abgesperrt, um die Möglichkeit auszuschließen, dass jemand plötzlich eintrat und sie in dieser ­Verfassung sah. Mit fortschreitendem Morgen schien ihr Gesicht immer blasser zu werden. Ein kleiner geöffneter Arzneikasten befand sich auf dem Toilettentisch. Einige zugestöpselte Fläschchen mit rotem Lavendel, Hirschhornsalz, ­Chloroform, Chlorodyne und Äther standen daneben. Einmal verharrte Mylady bei dem Medizinkasten und nahm geistes­abwesend die restlichen Flaschen nacheinander heraus, bis sie zu jenem Fläschchen kam, das mit einer dickflüssigen, dunklen Substanz gefüllt und den Worten „Opium – Gift“ beschriftet war.
    Lange Zeit spielte sie mit dieser Flasche herum. Sie hielt sie gegen das Licht, zog sogar den Stöpsel heraus und roch an der ekelerregenden Flüssigkeit. Sie könnte es verwenden und all ihren Verwirrungen ein Ende ­bereiten. Sie könnte jedoch auch die Ursache ihres Leids damit bekämpfen, Robert Audley. Doch dann schob sie die Flasche mit einem ängstlichen Schauder von sich. „Wenn ich es nur könnte“, flüsterte sie, „wenn ich es doch nur könnte. Jedoch warum sollte ich – jetzt?“
    Während sie diese Worte vor sich hin murmelte, ballte sie ihre kleinen Hände zu Fäusten und ging zum Fenster des Ankleidezimmers, das genau auf den ­efeubewachsenen Torbogen blickte, den jeder passieren musste, der von Mount Stanning zum Court kommen wollte. Der einsame Zeiger der Uhr über dem Torbogen stand auf eins.
    Eine Zeit lang verweilte sie am Fenster und behielt den Torbogen im Auge. Doch niemand durchschritt ihn, und so wandte sie sich schließlich ungeduldig vom Fenster ab und nahm die ermüdende Wanderung durch ihre Räume wieder auf.
    Was für ein Feuer es auch immer gewesen war, das sich so leuchtend am schwarzen Himmel widergespiegelt hatte, bis zu dieser Stunde war keine Kunde davon zum Court gedrungen. Der Grund hierfür mochte sein, dass dieser Tag scheußlich nass und windig war, also wahrhaft der letzte Tag, an dem selbst dem unverbesserlichsten

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