Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
ins Freie trat. Als er außer Sichtweite war, kam Ben hinter seinem Versteck hervor und kehrte wieder in die Bücherei zurück.
Dort holte er Emily Brontës Sturmhöhe aus dem Regal und ging damit zum Ausgabeschalter.
Aorakau Valley, 24. September 1954
Es war das erste Mal seit Wochen, dass Ben wieder zum U-ie hinausfuhr, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Große Lust darauf verspürte er zwar nicht, doch heute war sein achtzehnter Geburtstag, und Callum, der in einer Woche ebenfalls achtzehn wurde, hatte für sie beide eine große Feier organisiert. Und wenn Ben sich nicht wenigstens diesmal blicken ließ, würde das bloß zu Gerede führen, und er wollte lieber nichts riskieren.
Seufzend strich er mit den Fingern über den Einband von Jane Eyre , der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Unter dem Schutzumschlag verborgen steckte ein Brief von May. Wie viel lieber wäre er jetzt mit ihr zusammen! In letzter Zeit ertappte er sich immer wieder dabei, wie er davon träumte, mit ihr Hand in Hand über eine grüne Wiese zu laufen. Die Sonne stand strahlend am makellos blauen Himmel, und über ihnen zogen die für Neuseeland so typischen weißen Wolken entlang, denen es seinen Maori-Namen Aotearoa – Land der langen weißen Wolke – verdankte.
Ben sehnte sich so sehr danach, May nah zu sein, dass es beinahe körperlich schmerzte. Er war dieses ewige Versteckspiel so satt! Am liebsten wäre er auf der Stelle nach EmeraldDowns gefahren, um sie da rauszuholen. Dass er das nicht längst getan hatte, lag nur daran, dass sie ihn so inständig darum gebeten hatte. Sie fürchtete sich vor Callums Vater Ingram. Sie hatte Angst, dass er sie niemals freiwillig gehen lassen und sie für alle Ewigkeit mit seinem Zorn verfolgen würde.
Als er den U-ie erreichte, war die Feier bereits in vollem Gange. Aus dem Autoradio eines der Wagen, die am Ufer des Silver Creek parkten, drang laute Musik. Ein Lagerfeuer prasselte, über dem an einem improvisierten Spieß eine Lammkeule brutzelte. Bens Freunde tanzten, lachten und tranken Bier, die Stimmung war ausgelassen.
»Hey, Makepeace!«, wurde er laut jubelnd von den anderen begrüßt, als er aus seinem Morris stieg. Callum, der sich gerade noch mit Ruth Miller unterhalten hatte, kam auf ihn zugelaufen und klopfte ihm lachend auf die Schulter.
»Da bist du ja endlich!«, rief er aus. »Ich dachte schon, du willst dich wieder drücken, Makepeace! Komm, wir holen uns ein Bier und stoßen auf deinen großen Tag an!«
Sie gingen zum Silver Creek hinunter, wo die Flaschen mit Lion Beer zum Kühlen im Wasser lagen. Callum fischte zwei heraus und warf Ben eine zu. Der öffnete den Kronkorken und kippte den Inhalt mit einem Zug hinunter. Normalerweise trank er nur selten Alkohol, doch heute brauchte er einfach etwas, um seine Nerven zu beruhigen. Er wusste wirklich nicht, wie lange er diese Heimlichtuerei noch aushalten konnte. Am liebsten hätte er Callum die Wahrheit einfach entgegengeschrien!
»Lizzie Adair ist übrigens auch hier«, sagte Cal und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, nachdem er einen Schluck Bier getrunken hatte. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen …«
Ben sah sich um. Lizzie stand mit ihrer Freundin Melinda am Lagerfeuer. Immer wieder blickte sie verstohlen zu ihm herüber. Früher wäre er vermutlich zu ihr gegangen, um mit ihr zu flirten. Jetzt ließ ihn Lizzies Interesse an ihm vollkommen kalt.
Stattdessen dachte er an May. An ihr langes, schwarzbraunes Haar und die glutvollen dunklen Augen. An ihre Küsse, die so süß schmeckten wie wilder Honig, und an ihren sinnlichen Duft, der ihm die Sinne verwirrte und sein Herz schneller schlagen ließ …
»Ben? Sag mal, hörst du mir überhaupt zu, Kumpel?«
»Hm?« Ben blickte auf. »Tut mir leid, aber ich war gerade mit meinen Gedanken ganz woanders. Was hast du gesagt?«
»Ja, ja, ich sehe schon: Lizzie hat’s dir immer noch angetan, was? Aber wer könnte es dir verübeln? Die Kleine ist echt heiß! Nicht ganz so wie Marylin, aber …«
Er verstummte, als plötzlich lautes Gelächter von den parkenden Wagen her erklang. Die beiden Freunde drehten sich um – und Ben blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als er die Situation erfasste.
Rory Adair, Lizzies älterer Bruder, stand neben Bens Wagen und hielt das Buch in der Hand, das auf dem Beifahrersitz gelegen hatte. »Is’ nich’ dein Ernst, Makepeace! Jane Austen? Was bist du denn für ’ne Schwuchtel?«
Wie von der Tarantel
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