Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
neunjährigen Sohnes schon fast ein bisschen unheimlich. Doch sie hielt es nicht für richtig, mit Will darüber zu sprechen, ehe sie sich zuvor noch einmal mit Kim unterhalten hatte. »Schick sie einfach zu mir, wenn sie auftaucht, okay? Ich bin oben auf dem Boden.«
Der Dachboden war für Shelly in schwierigen Zeiten wie diesen zu einem Rückzugsort geworden. Hier fand sie die Gelegenheit, in Ruhe über alles nachzudenken, wenn ihr die Dinge über den Kopf wuchsen.
So wie jetzt.
Im hinteren Bereich des Speichers hatte sie einen alten Sekretär entdeckt, von dem sie hoffte, dass man ihn wieder herrichten könnte. Es war ein antiker Schreibtisch aus dunklem, gemasertem Holz, der über zahllose Schubladen und Fächer verfügte. Shelly plante, ihn für das Arbeitszimmer zu benutzen, das sie sich im Untergeschoss der Farm einrichten wollte.
Doch erst einmal musste das sperrige Möbelstück ausgeräumt werden. Schon im leeren Zustand wog es gut und gerne zweihundert Pfund – voll ließ es sich nicht einmal einen Zentimeter von der Stelle bewegen.
Wie immer brauchte Shelly einen Moment, um sich an das schummrige Halbdunkel auf dem Boden zu gewöhnen, und der Staub der Jahrzehnte kitzelte ihr in der Nase. Doch es dauerte nicht lange, da hatte die ganz besondere Atmosphäre hier oben sie wieder in ihren Bann gezogen. Und so gelang es ihr sogar, ihre eigenen Sorgen und Probleme für eine Weile zu vergessen.
Es war, als würde man eine Reise in die Vergangenheit unternehmen. Auf dem Speicher befanden sich die Schätze, aber auch der nutzlose Krempel aus mehr als vier Generationen Makepeace-Familiengeschichte. Shelly hatte einen großen Überseekoffer entdeckt, in dessen Innenfutter noch ein Reisebillet aus dem Jahr 1852 steckte, ausgestellt auf Shellys Ururgroßmutter Adele Makepeace.
Der Sekretär hatte es ihr ganz besonders angetan, doch sie brachte es nicht über sich, die ganzen Dokumente, Briefe und Urkunden darin einfach wegzuwerfen. Deshalb hatte sie nun bereits zwei Nachmittage damit verbracht, die Unterlagen Stück für Stück durchzusehen.
Ganz hinten in einer Schublade entdeckte sie nun einen mit einem roten Seidenband zusammengehaltenen Stapel Briefe, dem noch immer ein leichter Duft von Parfum anhaftete. Neugierig geworden, löste Shelly das Band, nahm einen der Briefe und legte alle übrigen auf der Schreibtischplatte ab.
Dann faltete sie das Papier auseinander und begann zu lesen.
6
Aorakau Valley, 20. August 1954
Liebster Ben,
ich vermag gar nicht zu beschreiben, wie ich jeden Deiner Briefe – jedes Wort, jede Silbe – verschlinge. Und während ich eine Zeile nach der anderen in mich aufsauge, spüre ich, wie Deine Liebe mein Herz erfüllt. Dann bin ich sicher, dass es uns eines Tages gelingen wird, alle Grenzen und Hindernisse zu überwinden. Und dann wird nichts und niemand auf der Welt uns mehr voneinander trennen können.
Oh, könnten wir uns doch nur öfter sehen! Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich danach sehne, deine Hand zu halten, Dich zu küssen. Mir ist klar, dass das keine Gedanken sind, die ein anständiges Mädchen gegenüber einem Jungen äußern sollte. Doch mein Vertrauen zu Dir ist übermächtig. Es ist, als wären unsere Seelen miteinander verbunden. So als wären wir eins. Geht es Dir auch manchmal so, mein Liebster?
Wenn ich des Nachts an meinem Fenster sitze und die Sterne betrachte, dann stelle ich mir vor, dass Du in diesem Moment genau dasselbe tust. Und dann bilde ich mir ein, dass das Sternenzelt uns beiden allein gehört. All die Millionen und Abermillionen funkelnder Diamanten in einem Meer aus schwarzem Samt.
Klingt das jetzt sehr albern für Deine Ohren? Manchmal kann ich eben doch nicht leugnen, dass ich nur ein Backfisch von noch nicht einmal sechzehn Jahren bin – obwohl ich mich selbst schon sehr erwachsen fühle. Erwachsen genug jedenfalls, um mir zu wünschen, den Rest meines Lebens mit Dir zu verbringen. Dich zu heiraten und mit Dir weit, weit weg zu gehen. An einen Ort, an dem niemand unserer Liebe Steine in den Weg legen kann.
Aber jetzt will ich lieber aufhören, ehe ich Dich noch mit meinen überschwänglichen Jungmädchenfantasien verschrecke.
Ich hoffe so sehr, dass wir uns heute Abend sehen können. Deine Dich über alles liebende May.
P. S. Falls es heute Abend nicht klappen sollte: Ich werde Callum bitten, mir als nächstes Sturmhöhe von Emily Brontë mitzubringen, und erwarte Deine Antwort sehnsüchtig!
Seufzend ließ
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