Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Ben den Brief sinken, den er eben unter dem Einband von Jane Austens Stolz und Vorurteil hervorgeholt hatte. May, dachte er versonnen. Kleine, süße, unschuldige May …
Bisher hatte ihre Idee, Briefe über die Romane auszutauschen, die Callum für sie in der Schulbibliothek auslieh, ganz wunderbar funktioniert. So blieben sie wenigstens in Kontakt, wenn sie einander schon so selten sehen konnten.
Natürlich vermochten ihm Briefe allein Mays Gesellschaft nicht zu ersetzen. Doch sie machten es ihm ein wenig leichter, so lange durchzuhalten, bis sich das nächste Mal eine Gelegenheit ergab, May in seinen Armen zu halten. Und jedes Mal, wenn die Sehnsucht nach ihr übermächtig wurde, holte er den stetig anwachsenden Stapel Briefe aus seinem Versteck ganz hinten in der untersten Schublade des großen Sekretärs und begann, in ihnen zu lesen.
Auf Dauer konnte es so jedoch nicht weitergehen. Er wollte mit May zusammen sein – und zwar nicht immer nur dann, wenn Callum sie ausnahmsweise einmal nicht auf ihrennächtlichen Spaziergängen im Garten von Emerald Downs begleitete. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an sie und …
»Was, zum Teufel, machst du denn hier, Makepeace? Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dass du lesen kannst!«
Als er Callums Stimme hörte, war Ben für einen Augenblick vor Schreck wie erstarrt. Unauffällig ließ er Mays Brief in seiner Hosentasche verschwinden, während er sich zu seinem Freund umdrehte.
»Jane Austen?« Callum hob eine Braue. »Ist das nicht eher was für Mädchen?«
»Das sagt gerade der Richtige«, entgegnete Ben und stellte die Ausgabe von Stolz und Vorurteil , die er noch immer festgehalten hatte, zurück ins Regal. Dabei deutete er auf den dicken Band, den Callum sich unter den Arm geklemmt hatte. » Krieg und Frieden , he?«
Ben hatte das Gefühl, dass Callum ihn leicht misstrauisch musterte, aber vermutlich bildete er sich das bloß ein. Was allerdings keineswegs seiner Einbildung entsprang war die Tatsache, dass sich die Beziehung zwischen Cal und ihm in letzter Zeit verändert hatte.
Sie waren schon miteinander befreundet, so lange Ben zurückdenken konnte. Spätestens seit der Schule traten sie eigentlich immer nur im Doppelpack auf, und bis vor Kurzem wäre Ben noch bereit gewesen, Callum sein Leben anzuvertrauen.
Doch jetzt, wo er das dunkle Geheimnis der Woods kannte, hatte dieses Vertrauensverhältnis Risse bekommen. Er war furchtbar wütend auf Callum, und es fiel ihm zunehmend schwer, seine Gefühle vor seinem besten Freund zu verbergen. Wie hatte er ihm Mays Existenz bloß all die Jahreverschweigen können? Und schlimmer noch – wie war es möglich, dass er das unsägliche Verhalten seines Vaters May gegenüber einfach so tolerierte? Ben konnte das nicht verstehen – und im Grunde wollte er es auch gar nicht!
»Nichts für ungut, Makepeace«, Callum legte ihm freundschaftlich einen Arm um die Schulter. »Was ist, kommst du mit? Ich wollte raus zum U-ie , um mich mit den anderen zu treffen. Du hast dich lange nicht mehr blicken lassen.« Mit einem süffisanten Grinsen fügte er hinzu: »Lizzie Adair hat schon ein paar Mal nach ihr gefragt …«
Ben schüttelte den Kopf. »Heute passt’s echt ganz schlecht, tut mir leid«, entgegnete er. »Vielleicht schau ich am Wochenende mal vorbei.«
Cal runzelte die Stirn. »Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Mir fällt schon seit ein paar Wochen auf, dass du dich irgendwie abkapselst. Hab ich was falsch gemacht, dass du mir aus dem Weg gehst?«
»Quatsch«, log Ben. »Alles in bester Ordnung, das bildest du dir nur ein!«
Dabei hatte Callum genau den Nagel auf den Kopf getroffen. Ben konnte einfach nicht mehr mit ihm zusammen sein, ohne ständig daran zu denken, was er und seine Familie der armen May antaten. Aber wie sollte er ihm das erklären, ohne seine Liebste damit in Schwierigkeit zu bringen? Das war wirklich das Allerletzte, was er wollte!
»Hast du dir eigentlich schon überlegt, was du an deinem Geburtstag nächsten Monat machst?«, riss Callum ihn aus seinen Gedanken. »Ich dachte, wir könnten vielleicht wieder zusammen feiern, was meinst du?«
»Ich denke darüber nach«, erwiderte Ben ausweichend. »Du, ich muss jetzt los, okay? Wir unterhalten uns ein anderes Mal darüber!«
Mit diesen Worten nickte er seinem Freund noch einmal zu und verließ dann die Bibliothek. Draußen verbarg er sich hinter dem breiten Stamm eines Eisenholzbaumes und wartete, bis auch Callum
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