Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
aber er hätte in Zukunft mit Sicherheit jeden weiteren Kontakt zwischen ihr und Ben unterbunden. Ihrem Liebsten war also gar keine andere Wahl geblieben, als die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Leider hatte Ingram genau so reagiert, wie zu befürchten gewesen war: Auf Bens Drohung hin, die Polizei einzuschalten, hatte man sie kurzzeitig im Zimmer ihrer Tante untergebracht. Danach, am Abend, hatte es – natürlich ohne Mays Beisein – eine Familienkonferenz im Salon gegeben, bei der beschlossen worden war, dass sie für eine Weile mit Callum aus Aorakau Valley fortgehen sollte. Wenigstens so lange, bis sich die Wogen ein wenig geglättet hatten.
Ausgerechnet Stewart Island! Sie kannte die Insel nur von einigen Fotografien, die ihr Cousin ihr nach seinem letzten Aufenthalt gezeigt hatte. Dem Strahlen nach zu urteilen, das er auf allen Bildern zeigte, schien er dort wirklich glücklich gewesen zu sein. Und mit Sicherheit würde auch May auf der einsamen, nur schwach von Menschen besiedelten Insel viel mehr Freiheiten genießen können, als es auf Emerald Downs der Fall war. Doch die Vorstellung, Ben für immer zu verlieren, war ihr so unerträglich, dass sie sich über diese Aussicht nicht wirklich freuen konnte.
»Warum tust du das eigentlich, Cal?« Die Frage lag ihr schon lange auf dem Herzen, und jetzt fand sie endlich den Mut, sie zu stellen. »Onkel Ingram hasst mich, das sehe ich in seinen Augen, wenn er mich anschaut. Aber du …? In all den Jahren hatte ich immer das Gefühl, in dir einen Freund gefunden zu haben. Du verabscheust mich nicht für meine Herkunft, ich glaube nicht einmal, dass du etwas gegen das Volk der Maori hast. Warum lässt du dich also von deinemVater für Dinge einspannen, hinter denen du nicht stehst? Warum hilfst du ihm, mich hier festzuhalten, obwohl du weißt, dass es Unrecht ist?«
Betroffen senkte Callum den Blick. »Es tut mir leid«, murmelte er leise.
»Das ist alles? Ein einfaches ›Es tut mir leid‹ ist alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Was weißt du denn schon?« Callums Stimme wurde jetzt lauter, und May glaubte, so etwas wie Verzweiflung herauszuhören. »Du ahnst ja nicht, wie oft ich schon mit dem Gedanken gespielt habe, dich einfach gehen zu lassen. Wenn ich dich abends allein im Garten spazieren ließ, hoffte ich manchmal, du würdest die Gelegenheit nutzen und einfach davonlaufen …«
»Aber wo hätte ich denn hingehen sollen?« May wischte sich die Tränen von den Wangen. »Zu meiner Tante Kiri, die mich damals zu euch geschickt hat, weil sie unmöglich noch einen weiteren hungrigen Esser versorgen konnte? Aber jetzt, Cal, jetzt habe ich Ben! Jetzt könnte ich weg – mit ihm! Irgendwohin, wo Onkel Ingram uns niemals finden wird. Kein Mensch muss je erfahren, woher ich komme und wer ich bin. Ich kann für immer euer dunkles Familiengeheimnis bleiben, Cal – nur bitte, lass mich gehen!«
Als ihr Cousin zögerte, keimte für einen winzigen Moment Hoffnung in May auf. Cal war kein schlechter Mensch – er war nur zu schwach, um sich gegen seinen despotischen Vater aufzulehnen.
Auch jetzt noch.
»Ich kann das nicht, May.« Er wandte sich ab und ging, ohne noch einmal zurückzublicken, zur Tür. »Wir sehen uns dann heute Abend«, stieß er heiser hervor – und fügte dann im Hinausgehen leise hinzu: »Verzeih …«
Emerald Downs, Aorakau Valley – am Abend des 26. September 1954
Es war schon dunkel, als Callum sie zu ihrem Spaziergang im Garten abholte. Onkel Ingram hatte eigentlich strikt verboten, dass sie sich in den nächsten Tagen draußen zeigte. Doch nachdem er vor etwas mehr als zwanzig Minuten in Richtung Stadt aufgebrochen war, hatte sein Sohn sich über diese Anweisung hinweggesetzt. Vermutlich, weil ihn sein schlechtes Gewissen plagte.
Nach dem Gespräch am Nachmittag war er ungewohnt einsilbig, und er vermied es, May in die Augen zu schauen. Sie spürte, dass er sich schämte, und hätte gern etwas gesagt oder getan, um ihm zu helfen. Doch das hier war etwas, mit dem er ganz allein zurechtkommen musste.
»Wann fahren wir also?«, fragte sie, als sie das lähmende Schweigen zwischen ihnen nicht länger ertragen konnte.
»Gleich morgen früh, bei Sonnenaufgang, bringt Vater uns nach Bluff. Wir sollten es heute Abend also nicht allzu spät werden lassen und …« Er verstummte, als plötzlich eine Gestalt aus dem Schatten des großen Rata trat.
May atmete scharf ein, als sie ihren Liebsten erkannte. »Ben!«
Sofort wollte
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