Das Geheimnis der Maurin
die Sitten vorschrieben, doch Fernando gebot ihm, im Sattel zu bleiben.
»Das ist nicht nötig«, raunte er ihm so leise zu, dass es nur Zahra und einige wenige hören konnten, die ebenso dicht bei ihnen standen wie sie. Zu gern hätte Zahra geglaubt, dass Fernando Boabdil diese letzte Demütigung aus Mitgefühl ersparte, aber sie wusste, dass Klugheit seinem Charakter weit eher entsprach. Er und Boabdil tauschten einen kurzen Blick: In Fernandos war in der Tat kein Hauch von Wärme zu finden, während Boabdils gebrochen war vor Schmerz. Der maurische Emir verneigte sich vor Fernando, Isabel und ihren Kindern. Dann trieb er sein Pferd an, noch zwei Schritte vorzugehen – und überreichte Fernando die Schlüssel der Stadt. »So nehmt hier die Schlüssel zu diesem Paradies.«
Einen kurzen Moment hielt Fernando sie in den Händen, Händen, die vor Erregung zitterten, wie Zahra wohl bemerkte, dann reichte er sie an Isabel weiter. Ihr Gesicht schien förmlich zu erglühen, ihre Augen heller als die Sonne zu leuchten. Sie drückte sich den Bund ans Herz, bekreuzigte sich, hob die Schlüssel gen Himmel – und im selben Moment brach unter ihren Gefolgsleuten ein solcher Jubel los, dass der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Hörner und Trompeten, Bischöfe und Feldherren, Ritter und Fußvolk – sie alle jubelten ihrer Königin und ihrem triumphalen Sieg zu. So viele Jahre hatte Isabel auf diesen Tag hingearbeitet, sich keine Ruhe und kein Nachlassen gegönnt und ihren Gott täglich um seinen Beistand angefleht, um das Maurenvolk mit seinem falschen Glauben zu besiegen und selbst in Granada einziehen zu können. Nun war dieser große Tag endlich da. Als der Jubel abebbte, gab Isabel die Schlüssel an denjenigen weiter, der ihn schon heute stellvertretend für die künftigen Generationen ihres Herrscherhauses entgegennahm: an ihren dreizehnjährigen Sohn Juan, einen hübschen, noch schmächtigen Jungen mit dunkelblonden Locken und einem Gesicht, in dem noch nichts von der gradlinigen Entschlossenheit seiner Eltern zu sehen war. Er wiederum reichte sie an denjenigen weiter, der Granada als Statthalter für sie regieren würde: den Conde de Tendilla.
Boabdil, Morayma und Aischa warfen Zahra, Raschid und Abdarrahman noch einen letzten Blick zu und ritten von dannen. Die Geschichte Granadas lag hinter ihnen. Der Stolz und ihre Selbstachtung verbaten es ihnen, sich noch einmal umzudrehen. Zahra sah ihnen nach, bis sie hinter dem ersten Hügel verschwunden waren.
Raschid rieb ihr über den Arm. »Komm, Zahra, jetzt reicht es – lass uns nach Hause gehen!«
Zahra blickte zu ihm auf. »Nach Hause?« Sie hob die Augenbrauen und wusste selbst, welche Bitterkeit in ihren Worten mitschwang. Es war nicht ihr Zuhause. Mit dem wenigen Gold, das ihnen nach dem Überfall noch geblieben war, hatte Raschid zwar ein durchaus ordentliches Haus anmieten können, aber der Gedanke, dass »ihr« Haus, das Haus ihrer Eltern und ihrer Kindheit, nur zwei Straßen weiter lag und jetzt einem anderen und noch dazu einem Christen gehörte, machte es ihr unmöglich, sich dort heimisch oder auch nur wohl zu fühlen.
»Zahra, Bitterkeit bringt uns nicht weiter. Wir müssen nach vorn sehen.«
»Nach vorn sehen … Meinst du damit solche Ereignisse wie den großen, festlichen Einzug, mit dem die Christen in vier Tagen unsere Stadt vereinnahmen werden?
Unsere
Stadt!« Sie richtete die Augen gen Himmel und drückte Abdarrahmans Hand so fest, dass der Junge einen kleinen Schmerzensschrei ausstieß.
»Zahra, nicht nur du hast dein Zuhause verloren«, erinnerte Raschid sie.
Zahra biss sich auf die Lippen. »Ja, ich weiß, es tut mir leid, aber ich …«
Raschid legte ihr den Arm um die Schulter. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich verstehe dich doch! Und ich weiß, dass deine Angst um Chalida das alles noch schlimmer macht. Hätten wir nicht vor den Christen fliehen müssen …«
Zahra hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht in Tränen auszubrechen. Chalida – ja, natürlich wäre sie noch bei ihr, wenn die Christen sie nicht besiegt hätten und sie nicht vor ihnen hätten fliehen müssen! Kein Tag verging, an dem sie die Christen für all das nicht wenigstens hundert Mal verfluchte – wenn diese Bilder in ihr auftauchten, wie der Kastilier Chalida von Tamu weggerissen hatte und sie nichts hatte tun können, um sie zurückzuholen … Und wenn sie sich dann
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