Das Geheimnis der Maurin
kastilischen Siegesflagge Tränen in die Augen. Raschid nahm ihre Hand und drückte sie nachdrücklich. »Nicht, Zahra, nicht weinen. Das sind sie nicht wert!«
»Ich weiß.« Zahra biss sich auf die Lippen und war froh, dass der Schleier zumindest dies verbarg. Nie würde sie verstehen, wie christliche Frauen freiwillig darauf verzichten konnten, ihr Gesicht zu verhüllen. Sie jedenfalls hätte sich in diesem Moment am liebsten unter einer Burka verborgen – allein sein mit sich und seinem Schmerz, ohne Blicke von außen zulassen zu müssen.
»Ich verstehe ohnehin nicht, warum du unbedingt sehen willst, wie … wie …« Raschid machte eine unwillige Handbewegung.
»Wie die Christen in Granada einziehen und in Besitz nehmen, was sie niemals in Besitz hätten nehmen dürfen!« Fast spuckte Zahra die Worte heraus.
Nach den Signalhornbläsern, Trompetern und Leibwächtern sahen sie nun die Katholischen Könige auf sich zureiten. Isabel saß hoch aufgerichtet auf ihrem golden aufgezäumten Schimmel, gekleidet in ein himmelblaues, perlenbesetztes Kleid, eine diamantenbesetzte Krone auf dem blonden, frei niederwallenden Haar. Sie streifte die Menschen, die ihr entgegensahen, mit einem erhabenen Blick und wandte ihre stahlblauen Augen dann der Stadt zu. Nur wenige Atemzüge trennten sie von der Schlüsselübergabe, nach der dieses Königreich endlich ihres sein würde. In der Tat feierte die Königin heute nicht nur ihren persönlichen Sieg, sondern auch den ihres Gottes: Er allein hatte ihren Soldaten die Macht verliehen, die Krieger und das Volk Allahs auf dem Boden Granadas in die Knie zu zwingen. Und ebenso wie von Isabels Augen ging auch von ihrer ganzen Erscheinung eine nahezu übermenschliche Erhabenheit aus, als strahlte die Übermacht ihres Gottes auf sie ab, und diese Wirkung war so stark, dass sich selbst Zahra und die anderen Zuschauer ihr nicht ganz entziehen konnten.
An Isabels Seite ritt Fernando, und auch wenn er nicht minder würdevoll und majestätisch wirkte, erschien er dabei doch weit irdischer als seine Gemahlin. Möglicherweise lag es an dem Glitzern in seinen Augen: Zahra konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als taxierte er Granada schon jetzt unter dem Blickwinkel, welchen Nutzen er aus der Stadt ziehen könne. Zahra fragte sich, welcher der beiden Regenten für Granada und die Mauren der gefährlichere war – und im nächsten Moment dachte sie: Mauren? Nein, Mauren waren sie die längste Zeit gewesen. Fortan gab es keine Mauren mehr. Genau wie das Maurenreich mit dem heutigen Tag zu existieren aufhörte, so taten es auch seine Bewohner. Von Stunde an waren sie nichts als Mudéjares, Muslime, die unter christlicher Herrschaft lebten und die froh und dankbar sein mussten, wenn diese sie ihren Glauben weiter ausüben und sie ihrer Arbeit nachgehen ließen, statt sie auf dem nächstbesten Sklavenmarkt wie räudige Hunde an den Meistbietenden zu verhökern.
»Wollen wir nicht doch zurück in die Stadt gehen?« Besorgt musterte Raschid seine Schwester. »Zahra, du bist weiß wie die Wand!«
»Nein, Raschid. Ich muss das hier sehen. Ich muss es sehen, um es nie, nie wieder zu vergessen!«
»Und Abdarrahman? Sollte nicht wenigstens er zurück in die Stadt? Zubair könnte ihn begleiten …«
Hastig klammerte der Junge seine Hand um die seiner Mutter. »Bitte, Onkel Raschid, lasst mich hierbleiben!«
Zahra sah zu ihm, und im gleichen Moment hob auch Abdarrahman den Blick zu ihr. Zahra wurde ganz heiß, denn sie erkannte in seinen Augen das, was auch sie empfand – und sie nickte ihm zu. Ja, mein Sohn, dachte sie, ja, wir werden uns rächen. Ich weiß noch nicht, wann, aber den heutigen Tag werden wir niemals vergessen – und Isabel und ihr Gefolge dafür zahlen lassen, dass sie uns unser Paradies, unsere Heimat genommen haben.
Der christliche Trupp war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, als Boabdil und die Seinen die Stadt durch das Tor der sieben Länder verließen und auf sie zuritten. Auch er, seine Frau Morayma und Aischa, seine Mutter, waren von einem großen Gefolge umgeben und ihre Pferde nicht weniger prächtig gezäumt, ihre Kleidung nicht weniger edel als die der Christen – aber die Trauer in ihren Herzen nahm ihnen allen Glanz. Haltung zu beweisen war das Einzige, was ihnen blieb.
Als Boabdil auf einer Höhe mit den Katholischen Königen war, zügelte er seinen Rappen und wollte absteigen, um vor den neuen Machthabern niederzuknien und ihre Hand zu küssen, wie es
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