Das Geheimnis der Maurin
verpasste ihm einen Tritt, der Jaime zurückschleuderte, riss die Tür auf und war dann auch schon im Nebenraum. In der nächsten Sekunde hörte Jaime einen entsetzten Schrei – den seiner Tochter.
»Und jetzt die Schwerter fallen lassen und mit den Gesichtern an die Wand, und zwar alle!«, brüllte Sánchez und drückte Chalida sein Schwert an den Hals. Aus einem Impuls heraus drängte Jaime trotzdem weiter auf ihn zu, doch dann schrie Chalida auf, und er sah, wie ein feines, hellrotes Rinnsal von Chalidas Hals auf Sánchez’ Klinge rann. »Noch ein Schritt näher …«, drohte ihm dieser.
Jaime hatte das Gefühl, dass in seinem Inneren alles zerbarst: sein Kind – direkt vor ihm – und nichts, nichts konnte er tun!
Sánchez packte Chalida im Nacken bei den Haaren, hielt ihr die Klinge weiter an den Hals und schob sich mit ihr, sorgsam nach allen Seiten blickend, an Jaime vorbei zur Ausgangstür. Jaime war der Einzige, der Sánchez’ Befehl nicht Folge geleistet hatte; alle anderen standen mit dem Gesicht zur Wand. Trotzdem er sein Schwert noch in der Hand hielt, wagte Jaime nicht, Sánchez erneut anzugreifen – er wusste, es wäre Chalidas Todesurteil gewesen.
Sánchez machte seinen Leuten Zeichen, ihm zu folgen. »Der Letzte schließt die Tür zu!«, zischte er und riss Chalida so hart mit sich, dass das Kind erneut aufschrie. Rückwärtsgehend verließ Sánchez den Raum. Drei Schritte weiter stand er direkt in der Türfassung. Er warf Jaime noch einen spöttischen Blick zu – und machte dann auf einmal ein ungläubiges Gesicht. Wie ferngesteuert glitt sein Schwert nach unten, fiel scheppernd auf die Fliesen, dann fasste er sich an den Rücken – und Jaime sprang nach vorn, riss seine Tochter an sich und schaffte sie aus dem Haus. Raschid und die anderen Männer brachten die Gefolgsleute Sánchez’ unter ihre Kontrolle, von denen sich die meisten, ihrer beiden Anführer beraubt, freiwillig ergaben.
Auf der Straße sah Jaime, wie Tamu einen blutverschmierten Langdolch im Korb unter ihren Kräutern verbarg. Als sie merkte, dass Jaime sie beobachtete, warf sie ihm einen trotzigen Blick zu. Dann stellte sie den Korb ab und öffnete die Arme für ihr kleines Vögelchen.
VI.
Granada
5 . Februar 1492
D er folgende Tag war ein einziges großes Fest im Hause der Sulamis, und Zahra wich kaum eine Minute von der Seite ihrer kleinen Tochter, welche die Gefangenschaft erstaunlich gut überstanden zu haben schien. Zwar war ihr Gesicht noch blasser, der Blick aus den großen blauen Augen noch scheuer und verschlossener als früher, aber alles in allem machte sie auf Zahra einen ruhigen und gefassten Eindruck. Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, dass ihre kleine Tochter Jaime weit mehr ähnelte als ihr: Sie war sich sicher, dass sie eine solche Verschleppung als Kind viel schlechter verkraftet hätte. Sehr ruhig und erstaunlich nüchtern hatte sie erzählt, dass die Entführer sie zwar rund um die Uhr in einen Raum eingesperrt, sie ansonsten aber in Ruhe gelassen hatten und sie nie daran gezweifelt habe, dass ihr Vater kommen und sie befreien würde. Leider hatte sie ihnen nicht mehr über die Entführer und ihre Motive sagen können.
Endgültig zu strahlen begann Chalida, als Jaime ihr am Nachmittag einen Welpen mitbrachte. Sie taufte das erst wenige Wochen alte schwarze Fellbündel Miled und hatte von Stund an nur noch Augen für ihn. Selbst beim Essen wollte sie ihn nicht auf dem Boden absetzen, und als Zahra darauf bestand, kullerten ihr augenblicklich dicke Tränen über die Wangen.
»So lass sie doch«, brummte Jaime. »Der Hund lenkt sie ab und hilft ihr, all das Schreckliche schneller zu vergessen!«
Seufzend gab Zahra nach und erlaubte später sogar, dass der kleine Kerl mit in Chalidas Bett durfte. »Aber nur, weil heute dein Festtag ist – und wenn du dich jetzt ohne Widerstand ins Bett bringen lässt!«
Erleichtert drückte Chalida das Tier an sich, gab allen noch Gutenachtküsse und ging dann mit Zahra nach oben.
»Aber wieso ist heute mein Festtag? Ich habe doch gar nichts Besonderes getan. Warum feiert Ihr nicht Vater und Tamu?«, fragte sie, als sie schon fast oben auf der Galerie waren. Zahra legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Pst, nicht so laut, sonst weckst du Ranaa!«
Deborahs dreijährige Tochter war bereits vor einer Stunde hingelegt worden, weil ihr die Augen zugefallen waren. Dabei war sie so aufgeregt gewesen, jetzt endlich nicht mehr allein schlafen zu müssen:
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