Das Geheimnis der Maurin
Geburt an waren alle Muslime Teil der
umma,
und ganz gleich, in welchem Land man geboren wurde – für jeden galten die fünf selben Pflichten: das Glaubensbekenntnis, das rituelle Gebet, das Zahlen der Armenspende, das Fasten im Monat Ramadan und zumindest für die Männer die Pilgerfahrt nach Mekka. Ein Austritt aus dieser Gemeinschaft war im Koran nicht nur nicht vorgesehen, sondern galt als Hochverrat und wurde mit dem Tode bestraft. Nein, niemals käme eine Konversion für sie in Frage, und auch für ihre Kinder wollte sie sicherstellen, dass sie stets Teil der
umma
blieben. Nicht zuletzt aus diesem Grund drängte sie zu Chalidas Heirat mit Musheer, den sie als sehr ernsthaften Muslim kennengelernt hatte.
Zahras Blick kehrte zu ihrer Tochter zurück. Sie war gewiss, dass diese, wenn sie erst mit Musheer verheiratet war, verstehen würde, welche gute Wahl Raschid, Jaime und sie getroffen hatten. Sie strich ihr über den Arm und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Du bist noch so jung, Kind, du kannst nicht wissen, worauf es im Leben ankommt. Oft müssen wir steinige Wege gehen, und dafür brauchen wir Menschen an unserer Seite, auf die wir zählen können. Glaub mir: Musheer ist so ein Mensch. Hör auf, gegen die Hochzeit mit ihm aufzubegehren. Er ist ein sympathischer junger Mann, klug und strebsam und trotzdem zu Späßen aufgelegt. Und auch, dass Abdu schon seit Jahren mit ihm befreundet ist, sollte dich für ihn einnehmen! So hab doch Vertrauen zu uns! Wenn du Musheer kennenlernst, wirst du ihn mögen und dich gewiss auch in ihn verlieben.«
»Aber wenn nicht, bin ich trotzdem schon mit ihm verheiratet«, schnaubte Chalida und wollte noch mehr entgegnen, da stürmte ihr großer Bruder ins Zimmer und ergriff augenblicklich das Wort. »Ich muss Euch sprechen, Mutter, sofort!«
Er sah zu Chalida und machte eine entschiedene Bewegung mit dem Kinn, woraufhin Chalida noch einmal schnaubte – und das ungleich vehementer als zuvor. »Um mit Aaron auszureiten, bin ich zu alt, aber um hier zuzuhören, zu jung. Ihr beiden legt Euch doch immer alles so zurecht, wie Ihr es braucht!«
Ein bloßes Augenbrauenheben Abdarrahmans genügte, um Chalida zum Schweigen zu bringen, was Zahra schmunzeln ließ. Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, dass Abdarrahman mit seinen fünfzehn Jahren ein ungewöhnlich reifer junger Mann war, und sie wusste, dass er sich durchaus nicht nur bei seiner kleinen Schwester so mühelos Respekt zu verschaffen wusste, wobei ihm zweifellos die aufrechte, selbstbewusste Art seines Vaters half, die er ebenso wie den unnachgiebigen Stolz seiner maurischen Vorfahren geerbt hatte.
Zahra begrüßte ihren Ältesten mit einem liebevollen Lächeln. »Friede sei mit dir, mein Sohn, wie schön, dich so früh zu Hause zu sehen! Was brennt dir auf der Seele?«
Abdarrahman wartete, bis seine Schwester die Tür hinter sich geschlossen hatte, und sagte nur: »Cisneros.«
Das Wort blieb wie eine Drohung im Raum stehen. Zahra schluckte und rieb sich über die Arme, als fröstele sie. Der Erzbischof von Toledo war bekannt für seine feindliche Einstellung gegenüber Juden, Muslimen und Neuchristen – oder
Marranen,
wie sie auch genannt wurden – und wurde von ihnen in Granada noch mehr als Torquemada gefürchtet. Trotz seiner hohen Stellung lebte er sehr zurückgezogen und in solch aufreizender Askese inmitten des Palasts, den er als Erzbischof hatte beziehen müssen, dass er dafür sogar schon vom Papst gerügt worden war. Seine Entsagung von allen Sinnesfreuden war angesichts der Prunkhaftigkeit und wollüstigen Liebesfreuden seiner Amtskollegen wie eine stumme Anklage, die ihm sogar der Papst übelnahm. Aber dafür konnte der dreiundsechzigjährige Franziskanermönch auf die bedingungslose Unterstützung Königin Isabels zählen, mit der er im Sommer nach Granada gekommen war.
»Was … ist mit Cisneros?«, fragte Zahra schließlich.
»Ich habe eben erfahren, dass er nicht mit Isabel und Fernando abreisen wird, sondern in Granada bleiben soll – als Inquisitor.«
Im ersten Moment war Zahra so erschrocken, dass sie keinen Ton hervorbrachte. Dann fasste sie sich und zeigte ein bitteres Lächeln. »Ich nehme an, das ist die Rache der Katholischen Könige für den Empfang, den wir ihnen bei ihrer Rückkehr bereitet haben …«
Als die Könige im Sommer nach mehrjähriger Abwesenheit zum ersten Mal wieder nach Granada gekommen waren, hatte Graf de Tendilla, der Alcaide der Stadt, die Mauren dazu
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