Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
grübelte, wie sie herausbekommen könnte, was mit ihren Eltern geschehen war. Aber so sehr sie sich den Kopf zerbrach, sie kam auf keine Lösung.
Aaron ahnte wohl, was in ihr vorging, vor einigen Tagen sprach er sie im Laboratorium darauf an, als sie einen Tiegel zerbrach und über ihr Missgeschick fast in Tränen ausgebrochen wäre.
»Was ist los? Was bedrückt dich?«, hatte er gefragt.
Anna sagte: »Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich möchte wissen, was mit meinen Eltern geschehen ist.«
Er seufzte und setzte sich zu ihr. »Geduld, Anna. Die Zeit wird kommen. Wenn du anfängst, herumzufragen, erregst du nur Aufsehen und Neugier, dann wollen die Leute wissen, was hinter deinen Fragen steckt. Und der Erzbischof hat seine Augen und Ohren überall, heißt es. Früher oder später würde ihm zugetragen, dass jemand Erkundigungen in deiner Sache einzieht. Glaub mir, das ist zu gefährlich. Wir kommen doch viel herum. Bestimmt ergibt sich einmal eine Gelegenheit, mehr zu erfahren. Du kannst es nicht mit Gewalt erzwingen. Du bist nur eine junge, schwache Frau.«
Sie wollte gegen diesen Satz aufbegehren, aber er beschwichtigte sie mit einer Handbewegung.
»Unsere Welt wird nun einmal von Männern regiert. In der Familie vom Ehemann oder Vater, im alltäglichen Leben vom Dorfschulzen oder dem Bürgermeister, im Reich von Adel und Geistlichkeit. Und wer ist der mächtigste Mann in unseren Landen? Der Erzbischof von Köln, vergiss das nicht. Er hat alle Mittel, seinen Willen durchzusetzen: Geld und Einfluss und damit Macht. Noch wagt er es nicht, die Staufer und ihre Stellvertreter hier in Oppenheim offen herauszufordern, aber er wartet nur auf den richtigen Moment, dessen bin ich sicher. Lass die Dinge auf dich zukommen. Irgendwann kommt die Zeit, wo dir plötzlich klar wird, was du machen kannst. Wenn es so weit ist, wirst du es erkennen.«
Anna hatte das Gefühl gehabt, dass mehr hinter seinen Worten steckte. Hatte Aaron die Gabe, etwas in ihr zu sehen, was ihr selbst noch nicht bewusst war?
Anna seufzte. Natürlich hatte der Medicus recht, wenn er an ihre Geduld appellierte. Aber es war unendlich schwer, mit der ständigen Ungewissheit umzugehen und damit zu leben.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, versuchte sie noch, bei Kerzenschein auf ihrer Stube ein lateinisches Buch aus Aarons Bibliothek zu lesen. Es handelte von den Säften des Körpers, ihrem Ungleichgewicht bei Krankheiten und dem Zusammenhang mit bestimmten Sternenkonstellationen. Doch seit sie Famula bei Aaron war, kamen ihr die Texte seltsam altbacken, abergläubisch und wenig hilfreich vor. Früher hatte sie solche Traktate regelrecht verschlungen, alle Behauptungen für weise und wahr gehalten und sie sich beim ersten Lesen so eingeprägt, dass sie, wenn es sein musste, jederzeit auswendig daraus zitieren konnte. Jetzt kamen ihr manche Methoden obskur und fern jeglicher Realität vor, weil sie tagtäglich miterleben durfte, welche Heilerfolge Aaron erzielte, eben weil er nicht nach den strikten Regeln handelte, die seit Jahrhunderten als heilig und unverletzlich galten, sondern nach seinen eigenen Erfahrungen und seinem gesunden Menschenverstand.
Als sie keinen Schlaf finden konnte, beschloss sie, in die Küche zu gehen und ein wenig Milch zu trinken, vielleicht würde das helfen.
Auf dem Weg von der Küche zurück in ihre Kammer sah sie Licht im Laboratorium brennen. Sie zögerte und klopfte dann an den Türstock, um Aaron nicht zu erschrecken, die Tür war nur angelehnt.
»Komm nur herein«, sagte Aaron, drehte sich jedoch nicht zu ihr um, so vertieft war er in die Arbeit an seinem Experimentiertisch.
Anna betrat den großen Raum voller Gerätschaften und Regale, in dem gewiss ein Dutzend Kerzen flackerten. Aaron trug seinen fleckigen Arbeitskittel, den er nur benutzte, wenn er mit seinen Experimenten beschäftigt war. Seit kurzem hantierte er mit neuartigen Salzen und ätzenden Flüssigkeiten und vermischte sie mit Salben und Ölen aus fernen Ländern, für die er ein Vermögen ausgab. In diesen Momenten erschien Anna der Medicus immer wie ein Alchemist, weil es in sämtlichen Tiegeln und Glaskolben zischte, stank und brodelte, und gelegentlich kam es zu kleinen Bränden und einmal sogar zu einer Explosion, bei der es ihm ein teures Glas zerriss. Dann konnte er tatsächlich furchtbar auf Jiddisch fluchen – natürlich nur, wenn er glaubte, allein zu sein.
Anna trat näher und sah, dass er über einen geschlachteten Hasen
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