Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
zu folgen schien, die nicht jedermann auf Anhieb verstand. Vor allem, wenn er wie Anna vom Land kam und so etwas noch nie erlebt hatte. Sie packte ihren Ranzen fester, denn es war auch jede Menge Gesindel unterwegs, das die Chance nutzte, in dem dichten Gedränge pralle Geldbeutel zu entwenden.
An jeder Ecke standen oder hockten Bettler, still und erbarmungswürdig, viele gebrechlich oder mit einem verwahrlosten Kind im Arm, und appellierten in stummer Not an die christliche Nächstenliebe; andere wiesen lautstark auf ihre Kriegsverletzungen hin und traktierten die Passanten, auf die sie ein Auge geworfen hatten, mit ihren Krücken. Ein Beinamputierter verfolgte seine Opfer so lange auf seinem kleinen Wägelchen, bis diese schließlich Erbarmen hatten und ihr Scherflein spendeten.
Anna mochte die Stadt und ihre ständige Aufgeregtheit und Betriebsamkeit nicht. Sie hatte fast ihr ganzes Leben in Zurückgezogenheit und Kontemplation verbracht und war das ständige Geschiebe, Gedränge, Gestoße und Geschrei und den Schmutz und Gestank schnell leid. So schnell es ging, überquerte sie den Markt und strebte auf das nordöstliche Stadttor zu, von dem aus der Serpentinenweg zur Burg hochführte.
Kurz vor dem Tor kam sie jedoch nicht mehr weiter, weil ein Pulk dichtgedrängter Menschen um einen Wunderheiler herum die Straße verstopfte. Der Mann hatte einen Stuhl vor einem Haus im Trockenen aufgestellt und präsentierte dem interessierten Publikum mit wortgewaltigem Redeschwall einen Patienten, dem er einen Stein aus dem Kopf zu operieren gedachte.
»Sehet her, sehet her! Hier wird gleich ein Wunder geschehen!«, versuchte der Mann die Aufmerksamkeit der Menge für sich zu gewinnen. Er war glatzköpfig und groß gewachsen und hielt einen Bohrer, mit dem man Löcher in der Größe eines Golddukatens hätte machen können, wie eine Hostie in die Höhe.
»Was ihr jetzt zu sehen bekommt, werdet ihr noch euren Enkelkindern erzählen können. Gott hat mich dazu auserkoren, Werkzeug seines Willens zu sein. Dieser beklagenswerte Mann hier ist von Gott für seine Sünden bestraft worden, und zwar mit der Tanzwut, einer schlimmen Krankheit …« Neben dem Scharlatan stand ein dicklicher, blasser Mann mit Schlapphut, der Anna zunächst gar nicht aufgefallen war. Er zitterte wie Espenlaub, Schaum stand ihm vor dem Mund, und er machte unentwegt kleine Trippelschritte, als ob er nicht stillstehen könnte.
»Jeden Tag verfällt dieser Mann dem Veitstanz und ist nur zu retten, wenn ich ihm den Stein, den der Leibhaftige ihm in seinen Kopf gehext hat, herausschneide.« Mit diesen Worten wurde der bedauernswerte Mann auf den Stuhl gesetzt, und der Wunderheiler stellte sich hinter ihn. Er hatte ein ganzes Sammelsurium von seltsamen Bohrern, Trichtern, Messern und Schüsseln auf einem Tischchen neben sich, nahm dem Mann den Schlapphut ab und warf ihn einem der Helfer zu, der ihn geschickt auffing und damit unter den Anwesenden herumging, um Geld für die Vorstellung einzusammeln. So lange wartete der Wunderheiler mit verschränkten Armen hinter dem Patienten. Die Leute spendeten großzügig. Nur ein Mann in der vordersten Reihe, ein Mönch in der schwarzen Kutte der Benediktiner und mit übergezogener Kapuze, einen Kopf größer als der Rest der Menge, mit einem Rücken wie ein Kleiderschrank, verweigerte mit verschränkten Armen jede Gabe. Er ließ seinen grimmigen Blick über die Zuschauer schweifen und verweilte dabei kurz auf Annas Gestalt. Er hatte die buschigsten Augenbrauen, die Anna je gesehen hatte. Schließlich wendete sich der Mönch wieder ab.
Anna hatte genug. Ein Scharlatan, der die Leute um ihr Geld bringt, dachte sie. Der arme Patient litt vermutlich viel eher unter einer Vergiftung mit einem Nachtschattengewächs. Vielleicht eine Überdosis Engelstrompete. Doch sie musste weiter. Nur noch am Rande bekam sie mit, wie der riesige Mönch mit der schwarzen Kutte und den buschigen Augenbrauen sich durch die Menge drängte, auf den Wunderheiler zustürzte und ihn am Kragen packte. Anna hatte keine Lust, sich jetzt auch noch durch eine allgemeine Prügelei aufhalten zu lassen, und machte, dass sie davonkam.
Als Anna den Serpentinenweg zur Burg Landskron hochmarschierte, konnte sie zur rechten Hand das Lager der königlichen Soldaten sehen, die Zelte, Pferde, Wagen und Lagerfeuer. Also war der junge Konrad wohl immer noch Gast auf der Burg. Sie betrat die Zugbrücke und hatte ihren Passierschein schon in der Hand, als eine
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