Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
die Sache vor sich herschob. Sie konnte nicht ernsthaft arbeiten, wenn sie selber nicht an ihren Entwurf glaubte. Sie brauchte eine zweite Meinung.
»Ich weiß nicht, irgendetwas fehlt.« Skeptisch betrachtete sie die Skulptur. Die Figur von Mutter und Kind
hatte sie aus Maschendraht geformt und mit Stahlstiften am Marmorsockel befestigt. Alles entsprach genau dem Modell, das Mrs Bronson abgesegnet hatte.
»Der Sockel ist dir gut gelungen.« Jocelyn stand Seite an Seite mit Holly am Ende des Ateliers, so weit wie möglich von der Skulptur entfernt. Die Bäume vor den Fenstern kratzten im schneidenden Oktoberwind mit ihren dürren Ästen einsam und verlassen an den Fensterscheiben.
»Das heißt, dass dir die obere Hälfte nicht gefällt«, schloss Holly nüchtern.
»Wie soll ich über einen Haufen verbogenen Stacheldraht ein vernünftiges Urteil abgeben?« Jocelyn zuckte mit den Schultern. Sie richtete ihr Augenmerk lieber auf die verkleinerte Version und strich mit der Hand über die Figur der Mutter und danach über die des Babys. »Sehr schön. Du wirst die endgültige Form schon entsprechend hinkriegen. Ist das Libby?«
Holly nickte bloß, weil sie glaubte, ihre Stimme würde vor Erregung zittern.
»Sie ist bezaubernd.«
»Und ich bin eine schreckliche Mutter.« Holly machte ihrem schlechten Gewissen Luft.
»Du hast keine andere Wahl, das wissen wir doch.«
»Ich weiß. Aber ich frage mich, wie ich ohne sie leben soll. Klar, ich habe die Möglichkeit, mein Leben zu retten, und ich bin froh, dass ich sie überhaupt kennengelernt habe. Trotzdem bricht es mir das Herz.«
»Also, zurück zu deiner Skulptur«. Jocelyn wechselte bewusst das Thema. »Es geht um verschiedene Generationen,
wenn ich recht verstehe. Jedes Kind wird die Mutter des nächsten Kindes?«
»Ja«, seufzte Holly. »Mit dem Sockel will ich die Generationenfolge darstellen. Um ehrlich zu sein, ich war nahe daran, irgendwo eine Bruchstelle einzufügen.«
»Als Anspielung auf das Verhältnis zu deiner Mutter?« Jocelyn war mit Hollys Vergangenheit so weit vertraut, dass sie sich vorstellen konnte, warum Holly diese Version erwogen hatte.
»Das Einzige, was meine Mutter mir mit auf den Weg gegeben hat, sind Selbstzweifel.«
»Libby hat dir gezeigt, dass du eine gute Mutter sein kannst, und allein aus diesem Grund wird sie immer eine Bereicherung in deinem Leben bleiben, auch wenn sie es nicht mit dir teilen kann.«
»Ich weiß. Deshalb ist es mir auch so wichtig, dass ich bei der Skulptur nichts falsch mache. Ich werde allerdings das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmt. Vielleicht ist es die ganze Haltung?«
»Das musst du näher erklären. Was für ein Gefühl meinst du?«
Holly konzentrierte sich auf das verkleinerte Modell. Sie betrachte es von allen Seiten, wobei sie der Drehbewegung der Spirale folgte, den angedeuteten Figuren und dann dem oberen Teil, wo die Mutter die Aufwärtsbewegung fortsetzte. »Die Kette der Figuren steht nicht nur für die Bindung zwischen Mutter und Kind, sondern sie soll auch zeigen, wie eine Generation auf die andere aufbaut. Die Spirale macht das Ganze dynamischer. Man könnte jederzeit aus der Kurve fliegen, mitten in unvorhergesehenen
Abenteuern landen.« Holly lachte. »Entbehrt nicht der Ironie, nicht wahr?«
»Es hat nicht jeder die Gelegenheit, in die Zukunft zu blicken«, gab Jocelyn zu bedenken, die wie immer der Monduhr auch etwas Positives abgewinnen konnte.
»Wie dem auch sei, die Mutter und das Baby stellen die gegenwärtige Generation dar.«
Jocelyn tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Warum hält die Mutter das Baby im Arm und blickt nach unten? Was hat das mit der Gegenwart zu tun?«
Holly stutzte. Sie lief noch einmal um die Skulptur herum. Dann eilte sie wieder zu Jocelyn und umarmte sie stürmisch. »Wenn ich dich nicht hätte! Das ist es. Das hat nicht gestimmt.« Holly griff hastig nach ihrem Skizzenblock.
Mit fliegender Feder erklärte sie Jocelyn, worum es ging. »Ich habe viel zu sehr auf Mrs Bronsons Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, Rücksicht genommen und die Idee nicht konsequent zu Ende geführt.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen«, meinte Jocelyn.
»Der Sockel ist stimmig, die Drehbewegung, die Verbindung zwischen den Generationen, die aufeinander aufbauen. Aber der obere Teil, die Mutter und das Kind, zeigen, wie oberflächlich ich die Bindung zwischen Mutter und Kind gesehen habe. Die Mutter nimmt die Drehbewegung richtig auf, sie hält das Kind
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