Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
jedoch völlig falsch. Es ist durchaus eine beschützende Geste, aber sie hat zugleich etwas Besitzergreifendes. Sie muss das Baby in die Höhe halten, seinen Weg in die Zukunft nachzeichnen. Nur so setzt sich das Thema fort, dass eine Generation auf der anderen aufbaut.«
»Darfst du den Entwurf denn noch ändern? Mrs Bronson hat ihn doch schon abgesegnet?«, gab Jocelyn zu bedenken.
»Ach was, zum Teufel mit Mrs Bronson. Es ist mein Werk, und ich habe von Anfang an Probleme damit gehabt. Ich konnte mich nie richtig damit identifizieren, weil ich wusste, dass irgendwas falsch war. In meinen Werken steckt immer ein Stück von mir selbst, und an dieser Skulptur hängt sogar mein Herz und meine ganze Seele. Jetzt weiß ich, was nicht stimmt, und muss es ändern.«
Jocelyn betrachtete Holly mit einem Lächeln. »Du hast schon lange nicht mehr dieses Funkeln in den Augen gehabt.«
Holly erwiderte das Lächeln. Jocelyn hatte recht. Seit Monaten schlug sie sich mit ihren Befürchtungen und Ängsten herum, und die Arbeit an der Skulptur war eine echte Herausforderung. Jetzt jedoch war endlich der Groschen gefallen. Holly konnte es gar nicht erwarten, das Gebilde aus Maschendraht einzureißen und noch mal von vorne anzufangen.
Jocelyn war im Begriff sich zu verabschieden, aber an der Tür zögerte sie einen Moment.
»Ist noch was?« Holly merkte, dass Jocelyn noch etwas auf dem Herzen hatte.
»Heute Nacht ist Vollmond«, sagte Jocelyn mit einem unsicheren Lächeln.
»Ich weiß. Aber keine Sorge, die Monduhr ist gut verpackt.«
»Du willst es nicht noch einmal versuchen?«
»Nein, jetzt jedenfalls nicht. Vielleicht später mal. Mir reicht, was die Zukunft im Augenblick für mich bereithält.«
»Tom und dich, euch beide hält sie bereit«, bestätigte Jocelyn. »Du hast dich richtig entschieden.«
Schließlich ging sie – im Glauben, dass Hollys Entschluss eisern genug war, um dem Sog der Monduhr zu trotzen. Die junge Frau würde ihre Hilfe nicht brauchen.
Wieder allein, stürzte Holly sich in die Arbeit, aber die Hoffnung, dass die wiedererwachte Kreativität für Ablenkung sorgen würde, erwies sich als falsch. Im ganzen Atelier lagen Skizzen von Libby verstreut, die sie verfolgten und nicht in Ruhe ließen. Noch bestand die Möglichkeit, dass alles wie in ihrer Vision eintreten würde. Ihr Entschluss, nicht schwanger zu werden, war noch nicht in die Tat umgesetzt. Der Termin für die nächste Verhütungsspritze war erst in ein paar Wochen. Dann erst wäre alles besiegelt, aber jetzt, als der Vollmond immer näher rückte, hatte Holly das Gefühl, den ursprünglichen Weg noch nicht verlassen zu haben.
Holly sah sich die Bilder ihrer Tochter an. Dann warf sie einen Blick auf die neuen Skizzen, die sie von der Mutter mit dem Kind angefertigt hatte. Holly wurde ganz aufgeregt, als ihr einfiel, was Jocelyn gesagt hatte: nämlich dass man im direkten Mondlicht besonders intensiv in der Zukunft präsent war. Vielleicht war heute Nacht die letzte Gelegenheit, Libby auf den Arm zu nehmen.
Holly bebte vor Spannung. Zum ersten Mal, seit die
Monduhr in ihr Leben getreten war, freute sie sich auf den makellos gerundeten und, wie sie hoffte, wohlwollenden Mond.
Die kümmerliche Herbstsonne am wolkenlosen Himmel hatte tagsüber für milde Luft gesorgt, aber der Mond, der mittlerweile aufgegangen war, verbreitete keine Wärme, und der Hof, der ihn umgab, versprach den ersten Nachtfrost.
Die Bäume im Obstgarten raschelten traurig im Wind und warfen ihre Blätter ab, als würden sie das Ende des Sommers betrauern. Das weiße Laken flatterte wie ein Gespenst, als Holly es von der Monduhr zog.
Die Uhr leuchtete im Mondlicht, und die Messinghalterung streckte gierig ihre Krallen aus, um nach der Kugel zu greifen, die in Hollys zitternder Hand lag. Als sie die Kugel einrasten ließ und darauf wartete, dass die gleißende Strahlenflut sie mit sich riss, behielt sie den Obstgarten fest im Auge. Vor drei Monaten hatte sie zuletzt die Monduhr befragt und war in einer kalten Januarnacht gelandet. Wenn die Uhr sich wieder an den Abstand von achtzehn Monaten hielt, an dem sich ein Fenster in die Zukunft öffnete, dann müsste sich der herbstliche Anblick in eine Frühlingslandschaft verwandeln, und der Obstgarten wäre der erste Hinweis, dass die Zukunft sich nicht verändert hatte und dass es ihre sieben Monate alte Tochter immer noch gab. Wenn der Obstgarten anders aussah, musste sie sich auf das Schlimmste gefasst
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