Das Geheimnis der Perle
Jahren immer begleiten lassen. Erst als Cullen ihn im letzten Sommer allein nach Hause geschickt hatte, um zu bewiesen, dass er durchaus dazu in der Lage war, hatte sie zugestimmt, ihn auch in Zukunft allein fliegen zu lassen.
Wenn Cullen also jemandem die Schuld geben wollte, dann nur sich selbst.
„Da wären wir.“ Der Taxifahrer hielt vor einem Apartmentkomplex oben auf dem Hügel. Matthew hatte ihm beschrieben, wo sie wohnten. Und trotzdem staunte Cullen über die vielen Lichter, die sich den Hügel bis zur Bucht herunterzogen. Die Stadt, die seinem Zuhause am nächsten lag, hatte weniger als tausend Einwohner. Und selbst wenn Broomes Erscheinungsbild sich sprunghaft verbessern würde,könnte es nie mit dieser Stadt mithalten.
Während der letzten Jahre war Cullen nur hin und wieder geschäftlich in Kalifornien gewesen, aber die Stadt, in der Liana und sein Sohn lebten, hatte er nie besuchen wollen. Er wollte nicht wissen, wie sie lebten, um dann noch mehr unter ihrer Abwesenheit zu leiden.
Als er wenig später vor dem Haus stand und auf die Klingel drückte, antwortete eine fremde Frauenstimme.
Er stellte sich vor und sagte dann: „Ich muss Liana sprechen.“
Die Frau, vermutlich Sue, von der Matthew ihm erzählt hatte, ließ ihn sofort herein. Liana stand schon in der Tür und sah ihn schweigend an.
Manchmal, selbst in den dunkelsten Nächten auf dem Indischen Ozean, hatte Cullen versucht, sich Lianas Gesicht vorzustellen. Er hatte erwartet, eine Frau vorzufinden, deren Angst und Schmerz sich deutlich auf ihren Zügen spiegeln würden.
Die Frau, die in der Tür stand, war zwar älter geworden, aber nicht weniger atemberaubend als an dem Tag, an dem sie für immer aus seinem Leben verschwunden war.
Liana trat nicht zur Seite. Sie trug einen Morgenmantel aus weißer Seide, mit Goldstickerei und blutroten Rosen in chinesischem Stil. Die schwarzen langen Haare, die ihr offen über die Schultern fielen, umrahmten ihr blasses Gesicht. Offensichtlich hatte sie noch nicht geschlafen, denn ihre Haare waren nicht zerzaust und die Augen nicht müde vom Schlaf. Vielmehr stand Trauer in ihrem Blick.
„Was machst du hier, Cullen?“, fragte sie schließlich.
Er stellte seine Reisetasche ab. „Hast du schon irgendetwas gehört?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts.“
Cullen hatte nichts anderes erwartet, auch wenn er sich trotzdem eine andere Antwort erhofft hatte. „Ich bin in Denverzwischengelandet. Da weiß man auch nichts von Matthew.“
„Die Polizei kümmert sich darum. Und das Sicherheitsteam von Pacific International.“
„War er vielleicht aufgebracht wegen irgendeiner Geschichte? Schlechte Noten? Ein Mädchen?“
Ihre aufgesetzte Beherrschung bröckelte. „Das hätten wir doch auch am Telefon besprechen können.“
Er war zu erschöpft, um sich taktvoll zu verhalten. „Ich musste dein Gesicht sehen, um sicher zu sein.“
„Dass ich ihn nicht vor dir verstecke?“
„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll, Lee. Unser Sohn wird vermisst. Mir bleibt ein Monat im Jahr, um mit ihm zusammen sein zu können. Und statt ihn in meinen Armen zu halten, fülle ich Polizeiformulare aus.“
Ein Anflug von Mitleid ließ ihre Züge weicher erscheinen, doch ihre Worte straften den Ausdruck Lügen. „Wie schade, dass er gerade in dieser Zeit verschwunden ist.“
Am liebsten hätte er noch einmal von vorne angefangen. Aber selbst wenn er seine Worte mit großem Bedacht wählen würde, würde dies nichts an der Feindseligkeit zwischen ihnen ändern, die schon seit Jahren bestand. Manche würden sogar behauptenn schon ein ganzes Jahrhundert.
„Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten.“ Er nahm seinen Hut ab, den verbeulten Akubra, den er schon immer getragen hatte, und strich sich die braunen Haare aus der Stirn. „Ich will meinen Sohn finden. Und wenn wir zusammenarbeiten, können wir die Sache vielleicht klären.“
„Klären?“
„Willst du lieber herumsitzen und warten?“
Er hatte mit einer spöttischen Antwort gerechnet, doch sie schüttelte den Kopf und meinte: „Komm rein.“
Im Wohnzimmer entdeckte Cullen ein Porträt ihres Sohnes an der Wand, das er noch nie gesehen hatte. Matthew RobesonLlewellyn, mit elf oder zwölf Jahren. Sonnengebleichte braune Haare mit einer Tolle wie sein Vater. Die dunklen, schräg stehenden Augen hatte er hingegen von seiner Mutter. Cullens Grinsen, Lianas gerade Nase. Cullens Größe, Lianas lange Finger.
Ihr gemeinsamer
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