Das Geheimnis der Perle
habe ich dich getroffen und geheiratet.“
Er sah sie warm an. „Ja, an diesen Teil der Geschichte erinnere ich mich.“
Ihre Wangen färbten sich rot. Sie wandte den Blick ab und überlegte, welche Bedeutung all das haben könnte. War Meis Geschichte nur das Gerede einer alten Frau?
Oder hatte die Geschichte etwas mit Matthews Verschwindenzu tun? Wusste Mei vielleicht mehr, von dem sie ihnen nichts erzählt hatte?
„Worüber denkst du nach, Lee?“
„Nachdem sie in Amerika angekommen war, hat Mei einen Mann namens Wo Fong geheiratet. Denk doch mal nach, Cullen! Sie war erst zwanzig. Sie ist um die halbe Welt gereist, um meinem Vater die Perle zu bringen. Sie hatte den Mann aufgegeben, den sie liebte, nur um von ihrem Bruder mit leeren Händen zurückgelassen zu werden. Sie war allein in Amerika. Keine Familie, keine Freunde und keine Arbeit. Sie hatte nur einen Vorteil. Die meisten chinesischen Männer wurden per Gesetz gezwungen, ihre Familien in China zurückzulassen. Eine unberührte Chinesin war also ein seltenes Gut. Mei hatte sicher viele Verehrer. Sie hat mir einmal erzählt, sie habe sich für Wo Fong entschieden, weil er ein freundlicher Mann und harter Arbeiter war, der es zu etwas bringen würde. Aber aus Liebe hat sie ihn nicht geheiratet.“
„Also hat sie mit einem Fremden eine Familie gegründet, während mein Großvater bis zu seinem Tod darüber nachgrübelte, warum sie ihn verlassen hat.“
„Wie war dein Großvater, Cullen? Erzähl mir, was du über ihn weißt.“
„Ich weiß nicht, was das für einen Sinn haben sollte, Lee.“
Sie verstand nur zu gut, warum er frustriert war. Und deshalb schien es ihr selbstverständlich, dass sie die Hand auf seine legte. Doch sie zog sie schnell wieder zurück, als ihr bewusst wurde, was sie getan hatte.
Cullen ließ sich nichts anmerken. Stattdessen begann er mit seiner Geschichte. „Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Ich war gerade mal vier, als er starb. Er war ein ruhiger Mann, ernst und zurückhaltend. Er hat meine Großmutter geheiratet, weil ihre Ländereien aneinandergrenzten und sie sie beide zum Erfolg führen wollten. Sie war eine waschechte Australierin, dazu bestimmt, am Ende der Welt zu leben. Siewar stark wie ein Mann, aber sie konnte viel besser mit Pferden umgehen. Mein Vater war ein Einzelkind – der Erbe, den sie brauchte. Mehr Kinder wollte sie nicht.“
„Also haben weder Mei noch Bryce aus Liebe geheiratet.“ „Ich weiß nicht, ob mein Großvater unglücklich war.
Aber ich glaube, mein Vater hatte kein richtiges Familienleben, weil seine Eltern immer irgendwo getrennt auf der Farm beschäftigt waren. Er wurde von Ehepaaren aufgezogen, die auf der Farm den Haushalt versorgten. Manche waren gute Menschen, manche schlechte.“
Während ihrer Ehe hatte Cullen kaum etwas über seinen Vater Roman erzählt. Liana wusste, dass sie sich viele Jahre fremd gewesen waren. Daran schien sich nichts geändert zu haben. „Laut Tante Meis Schilderungen hatte Bryce kaum Gelegenheit zu lernen, was ein guter Vater ist.“
„Und das hat sich wohl auf meinen Vater übertragen. Ich glaube, Dad hat versucht, ein guter Vater zu sein, aber er wusste nicht, wie. Ich war erst zehn, als meine Mutter starb. Von da an ist es immer schlimmer geworden.“ Cullen atmete tief ein. „All die Jahre habe ich mich gefragt, ob ich bei Matthew auch versagt habe.“
Liana hatte sich so in ihr eigenes Unglück vertieft, dass sie sich wenig Gedanken um Cullen gemacht hatte. Aber er litt genauso wie sie, und sie hatte nichts getan, um ihm zu helfen. Als würde Matthew näher zu ihr rücken, je weiter sie seinen Vater von sich stieß.
„Matthew betet dich an“, sagte sie leise. „Und manchmal war ich richtig wütend deswegen. Weil ich an seinem Bett sitze, wenn er krank ist, und du derjenige bist, den er bewundert.“ Sie hielt inne. „Es tut mir leid! Ich wünschte, er würde dich genau jetzt anbeten.“
„Und ich würde den einen Monat im Jahr dafür geben, wenn er jetzt hier bei uns wäre.“
Sie sahen einander an, in stummer Verzweiflung. Tränenliefen über Lianas Wangen. Er legte den Arm um sie und zog sie an seine Schulter. Sie versteifte sich für einen Moment, ehe sie sich erschöpft und verängstigt entspannte. Denn Cullen war der einzige Mensch, der genau verstand, was sie fühlte.
Sanft strich er ihr über die Haare. „Ich war auch wütend, Lee. Weil ich derjenige sein wollte, der an seinem Bett sitzt. Du bist diejenige, auf die er
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