Das Geheimnis der Perle
wollen“, murmelte sie undfühlte sich noch elender. Nachdem sie sich ausgezogen hatte und in das übergroße Shirt geschlüpft war, das sie unterwegs gekauft hatte, ging sie zurück. Cullen lag schon unter der Decke und hatte ihr den Rücken zugedreht. Sie bezweifelte, dass er schon schlief, wollte aber nicht fragen. Stattdessen ging sie zum Bett und schlüpfte neben ihm unter die Decke.
Liana war in eine Welt hineingeboren worden, in der sie zwar sehr willkommen war, die ihr aber keine Sicherheit bot. Ihr Leben mit Thomas war das genaue Gegenteil. Doch sie war ein intelligentes Kind. Nach dem schrecklichen Flug nach Kalifornien war ihr schnell klar geworden, dass sie Thomas’ Anweisungen besser stillschweigend befolgen sollte, während in ihr der Widerstand brodelte.
Ebenso schnell wurde Liana bewusst, dass ihre Stiefmutter Sammy und Graham, ein pummeliger Junge mit Asthma, nie auf ihrer Seite stehen würden. Bis Mei in ihr Leben trat, schlug Liana sich also allein durch. Ihre Tante erkannte, welche künstlerischen Fähigkeiten in ihrer Nichte steckten, und ermunterte sie, einen Schmuckdesign-Kurs zu belegen. So wurde aus Lianas Talent ihre Leidenschaft. Mei hatte sie immer darin unterstützt, diesen Weg weiterzugehen.
Eines hatte sich Liana aus ihrer antiautoritären Erziehung in der Hippie-Bewegung herübergerettet: dass man seinem eigenen Herzen folgen sollte. Ganz egal, wie oft Thomas ihr auch drohte, wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie endlich wieder ihre Freiheit hatte.
Thomas wollte, dass sie Betriebswirtschaft studierte, damit sie eines Tages ihren Platz bei Pacific International einnehmen könnte. Doch Liana hatte nicht das geringste Interesse daran. Sie war fest entschlossen, sich Thomas’ Forderung zu widersetzen.
Auf Meis Drängen belegte sie weitere Kurse in Schmuckdesign. An ihrem siebzehnten Geburtstag kam Thomas dannin ihr Zimmer, wo sie gerade mit bunten Strasssteinen experimentierte.
Ihr Vater stand in der Tür und sah sie kalt an. Während Liana gewachsen war, war Thomas, inzwischen achtundsiebzig, zusammengeschrumpft. „Ich bin gekommen, um dir dein Geburtstagsgeschenk zu zeigen“, sagte er.
Da bei Geburtstagen im Hause Robeson sonst nur förmlich gratuliert wurde, war Liana überrascht. „Jetzt sofort?“
Er sah an ihr vorbei zum Tisch. „Sieht nicht so aus, als ob du an etwas Wichtigem arbeitest.“
„Natürlich nicht.“ Sie lächelte süß.
„Du solltest deine Zeit lieber nutzen, um deine Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern.“
Einige Jahre zuvor hatte Thomas angeordnet, dass Liana in der Highschool Deutsch und Französisch lernen und die Sprachen fließend beherrschen sollte, damit sie später die Geschäftsverhandlungen in anderen Ländern übernehmen könnte.
Wut stieg in ihr auf und ließ sie diesmal ihre Vorsicht vergessen. „Mein Kantonesisch ist schon viel besser geworden.“
Er verengte die Augen. „Kantonesisch?“
Sie wusste nicht einmal, warum sie damit weitermachte. „Ja. Ich habe eine Frau kennengelernt, die mir Privatunterricht gibt. Das ist doch sinnvoll, oder nicht? Schließlich gibt es hier genügend Chinesen, und wenn wir Pacific International weiterentwickeln wollen, brauchen wir doch jemanden, der die Sprache fließend beherrscht. Ich wollte dich damit überraschen.“
„Wer ist diese Frau? Und wo hast du sie kennengelernt?“
Jetzt war es zu spät, noch einen Rückzieher zu machen, auch wenn Liana nicht wusste, warum sie Thomas all das überhaupt erzählt hatte. „Sie heißt Mei Fong. Sie ist wunderbar – witzig, intelligent und warmherzig. Ich habe sehr viel von ihr gelernt.“
Er fragte nicht, was sie gelernt hatte. Stattdessen trat er ein. „Wie hast du diese Frau getroffen?“
„Einer meiner Lehrer hat mich ihr vorgestellt. Wir hatten einen Einführungskurs in Chinesisch, der mir gut gefallen hat. Ich dachte, du freust dich, wenn ich noch dazulerne.“ Sie schenkte ihm erneut ein seliges Lächeln.
Thomas’ Miene wurde eiskalt. „Was weißt du über sie?“
„Mal überlegen … Sie ist Witwe. Ihr Mann hatte ein Importunternehmen, das ihre Söhne jetzt führen. Ich glaube, sie hat ausgesorgt. Sie unterrichtet mich nur, um mir einen Gefallen zu tun.“
Eindringlich sah er sie an. „Was weißt du noch?“
Sie tat so, als müsste sie nachdenken. „Sie hat jede Menge Enkel und Urenkel, die meisten von ihnen Jungen. Einer von ihnen, er heißt Frank, ist etwa so alt wie ich. Er geht nächsten Herbst nach
Weitere Kostenlose Bücher