Das Geheimnis der Perle
gefühlt als in diesem Augenblick. Wenn ihr Vater bemerkte, dass sie weg war, würde er vermutlich sagen: „Genau wie die Mutter“, und sich dann wieder seinen Geschäften widmen.
Ein Jahr lang hatte sie sich auf ihre Flucht vorbereitet, obwohl ein Teil von ihr hoffte, dass es nicht notwendig werden würde. Doch am Tag ihrer Abschlussfeier waren die Probleme eskaliert. Ein ganzes Jahr lang war sie doppelt vorsichtig gewesen, wenn sie sich mit Mei traf. Thomas hatte nie wieder von ihr gesprochen. Liana hoffte, dass sie ihn hatte täuschen können. Sie war stolz darauf, Meis Nichte zu sein, bedauerte es jedoch, Thomas’ Tochter zu sein. Doch bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr würde er ihr Leben kontrollieren.
Am Morgen der Abschlussfeier verkündete Thomas, dass weder er noch Sammy an den Feierlichkeiten teilnehmen würden, weil sie beide bei einem Geschäftsessen wären. Da Graham noch in Princeton war, würde also kein Mitglied der Familie dabei sein. Selbst Thomas hatte Liana so viel Herzlosigkeit nicht zugetraut. Niemand würde ihr zujubeln, wenn sie ihr Zeugnis erhielt. Doch dann fiel ihr Mei ein. Die Tante hatte Zweifel, ob es vernünftig wäre, wenn sie an der Zeremonie teilnahm, doch Liana versicherte ihr, dass Thomas nicht da sein würde. „Außerdem bin ich fast achtzehn“, fügte Liana hinzu. „Jetzt ist es mir egal, was Thomas weiß. Bald kann er mir nichts mehr antun. Aber wenn du Angst hast, er könnte dir irgendwie zusetzen …“
Mei lächelte nicht. „Ich habe starke Söhne und selbst genug Einfluss …“
Als Liana dann abends ihr Zeugnis bekam, wusste sie, dass der einzige Mensch, der sie auf dieser Welt wirklich liebte, voller Stolz im Publikum saß. Die Begeisterung hielt so lange wie die Zeremonie. Als Mei danach zu ihrer Nichte ging, um sie zu umarmen, sah Liana, dass Thomas und Sammy am Rand der Menge standen.
Liana wandte sich wieder Mei zu. „Tante Mei, mein Vater ist da.“
„Ach, wirklich?“ Sie schien nicht besorgt. „Vielleicht hat er gehofft, dich auf frischer Tat ertappen zu können.“
Doch Liana konnte sich nicht vorstellen, dass Thomas in aller Öffentlichkeit eine Szene machen würde. „Ich lasse nicht zu, dass er dir wehtut“, versprach sie.
Liebevoll strich Mei ihr über die Wange. „Er kann mir nicht wehtun. Aber ich werde jetzt trotzdem gehen.“
„Ich werde ihm sagen, dass ich weiß, wer du bist.“
„Ich glaube, das weiß er bereits, Liana.“ Mei gab ihr einen Kuss, ehe sie in der Menge verschwand. In dem kleinen Auditorium saßen viele Mitglieder der angesehensten und erfolgreichsten Familien von San Francisco, ironischerweise ein Regenbogen aus Nationalitäten und Hautfarben, sodass Mei überhaupt nicht auffiel. Thomas hätte mit seinen chinesischen Vorfahren vielleicht sogar geschäftliche Vorteile gehabt, doch er hatte sein Geheimnis nie preisgegeben.
„Ich habe Sammy nach Hause geschickt“, kam Thomas direkt auf den Punkt und fasste Liana am Ellbogen. „Wir gehen zu Fuß, bis der Chauffeur mit dem Wagen wieder da ist.“
Sie schüttelte seine Hand ab. „Ich habe für heute Abend schon zwei bessere Einladungen. Warum bist du überhaupt gekommen? Du hast doch gesagt, du wärst woanders.“
Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. „Für dich gibt es heute keine Partys.“
„Wenn du versuchst, mich davon abzuhalten, gehe ich zurück auf die Bühne und erzähle jedem, wer Mei ist.“ Siesprach leise, ein Lächeln auf den Lippen. „Nur der Ordnung halber, Daddy : Ich bin stolz darauf, Chinesin zu sein. Das Einzige, dessen du dich je hast schämen müssen, ist dein winzig kleines Herz. Gott sei Dank hat deine Schwester ein sehr viel größeres.“
„Du wirst sie nicht sehen und nicht von ihr sprechen. Nie wieder! Falls doch, wirst du alles verlieren. Du musst dich entscheiden, Liana: ihre Familie oder meine. Aber glaub ja nicht, dass du beides haben kannst!“ Damit drehte er sich um und verschwand in der Menge.
Am nächsten Morgen sprachen sie nicht von Mei. Liana blieb nur noch so lange in Thomas’ Haus, bis sie die nötigen Papiere für die Erbschaft von ihrer Mutter unterschrieben und sich einen Gebrauchtwagen gekauft hatte. Und dann verschwand sie eines Nachts. Auf dem Weg aus der Stadt hielt sie nur ein Mal an. Diesmal sah sie nicht über die Schulter, als sie zu dem Apartment am Waverly Place ging. Vielmehr stieg sie stolz und mutig die Treppe hinauf. Sie spürte bereits, wie die Fesseln von ihr abfielen. Sie war frei und konnte ihre
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