Das Geheimnis der Perle
Kindheit hinter sich lassen.
Sie klopfte bei ihrer Tante an die Tür. Als Mei öffnete, nahm sie die verschlafene Frau in die Arme.
„Ich verschwinde, Tante Mei, endlich. Wünsch mir Glück!“ Mei fragte nicht, wo Liana hinwollte. Sie kannte ihre Nichte und wusste, wie verzweifelt sie sich nach Freiheit sehnte. „Schreibst du oder rufst an?“
„Aber natürlich. Ich werde dich sehr vermissen.“
Mei zog sie an sich, ehe sie Liana auf Armeslänge von sich hielt. „Es gibt nur zwei Dinge, die ich in meinem Leben bereut habe. Das zweite war, keine Tochter zu haben – bis ich dich fand.“
Liana spürte, dass Tränen über ihre Wangen liefen. „Ohne dich hätte ich es nicht geschafft, Tante Mei. Du bist der einzige Mensch auf der Welt, den ich liebe.“
„Das wird sich bald ändern.“ Mei umarmte sie wieder, dann schob sie Liana von sich. „Geh, aber sei gewarnt.“ Sie sagte etwas auf Kantonesisch, das Liana nicht verstand. „Meine Großmutter hat das oft zu mir gesagt. Du bist genau wie sie. Äußerlich und im Herzen.“
„Und was bedeutet es?“
„Wenn du auf den Rücken eines Tigers steigst, kannst du nicht wieder herunter.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Du hast dich für einen neuen und wagemutigen Weg entschieden, Liana. Wenn du den ersten Schritt getan hast, musst du weitergehen.“
„Ja, das muss ich. Nach Hause kann ich nicht mehr zurück.“
„Für dich ist jetzt die Zeit gekommen, vorwärts zu gehen.“ Mei trat zurück. „Und ich warte, bis du etwas von dir hören lässt.“
Den Sommer verbrachte sie als Lehrling bei einer Handwerksmeisterin in Nevada. Im Herbst durchquerte sie das Land, um am Pratt Institute in Brooklyn anzufangen. Sie schrieb Mei oft, oder sie rief an. Thomas gab sie auch Bescheid, wo sie wohnte, obwohl er sie sicher schon für immer aus seinem Leben gestrichen hatte.
Vom ersten Tag auf dem Campus war sie für alles offen. Sie liebte Schmuck, das Funkeln der Edelsteine und wie sich das kühle Metall unter ihren Fingern anfühlte. Sie liebte es, die Materialien zu formen und Wunderschönes zu erschaffen, das den Reiz einer Frau noch betonen würde.
Bereits im letzten Studienjahr gewann sie Preise für ihr Design, und sowohl exklusive als auch kleine Läden zeigten Interesse an ihren Kreationen.
Nach ihrem Abschluss fuhr sie nach New York, um sich in Manhattan mit dem Art-Direktor von Tiffany & Co. zu treffen. Gleichzeitig lernte sie Cullen kennen.
Mit Beziehungen war Liana während ihres Studiums sehr vorsichtig gewesen. Sie hatte ihre Kommilitonen auf Distanz gehalten, aus Angst, nicht objektiv sein zu können; zu viele Männer hatten Hopes Leben unglücklich gemacht. So hatte sie zwar irgendwann ihre Unschuld verloren, aber nicht ihr Herz.
Obwohl sie sich bei Tiffany in den geheiligten Hallen der besten Designer befand, verspürte sie keinerlei Nervosität. Sie wusste nicht einmal, ob sie hier überhaupt arbeiten wollte, wo sie wahrscheinlich jahrelang erst einmal die Entwürfe anderer würde ausführen müssen. Da sie ein unabhängiges Einkommen hatte, gab es für sie auch die Möglichkeit, ein eigenes Geschäft in einer gehobenen Touristenstadt in New England zu eröffnen. Nach vier Jahren Studium, bei dem sie sich auch genügend betriebswirtschaftliche Kenntnisse angeeignet hatte, war sie bereit für ein Abenteuer.
Der Empfangsbereich war genauso exklusiv wie der Schmuck von Tiffany. Während Liana in der grauen Ledergarnitur wartete, schlenderte plötzlich ein junger Mann vorbei und nannte der jungen Dame am Empfang, die wie ein Model aussah, seinen Namen. Liana sah, wie die Augen der Frau aufleuchteten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und ihre Locken wippten, als sie mit dem Kopf zu der Sitzgruppe deutete, wo Liana saß.
Liana sah, wie er näher kam. Er war groß, hatte schmale Hüften und breite Schultern. Seine Kleidung, marineblaue Jacke und dunkle Hose, war nicht teuer. Aber er trug sie mit einer solch selbstverständlichen Lässigkeit, die ihn von den anderen hier abhob.
„Kann ich mich zu Ihnen setzen?“
Sie rückte ein Stück zur Seite, ehe er sich zu ihr aufs Sofa setzte. „Sie sind aus Australien, stimmt’s?“
Er grinste. „Und Sie ein Yankee.“
„Mehr oder weniger.“
„Sieht so aus, als ob ich hier eine Weile warten müsste. Am liebsten würde ich mir draußen die Beine vertreten nach dem langen Flug, aber ich fürchte, ich finde nicht mehr zurück.“
„Finden Sie New York verwirrend?“
„Nein. Faszinierend.
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