Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
nie aufgefallen.«
»Euch sind noch ganz andere Dinge entgangen!«, bemerkte Abram. »Und dir auch, Onkel ...« Abram lachte schon wieder, wobei sein Spott wohl eher Salomon galt als Gerlin. »Habt ihr wirklich beide nicht bemerkt, dass Miriam nicht weiß, wie man sich richtig bekreuzigt? Mir blieb jedes Mal fast das Herz stehen, wenn sie das Kreuz nicht von links nach rechts, sondern von rechts nach links schlug. Zum Glück immer halb unter ihrem Schleier, und die Mönche im Kloster würden sich strafbar machen, wenn sie so einem Mädchen auf den Busen schauten. Aber bei mir war das natürlich ... na ja, dahin fiel mein Blick einfach zuerst.«
Gerlin konnte nicht anders. Sie lachte mit. »Und wie denkst du dir das jetzt weiter?«, fragte diesmal sie, allerdings in deutlich freundlicherem Tonfall als Salomon zuvor. »Willst du sie als Christ oder als Jude zur Frau nehmen?«
»Natürlich als Jude!«, sagten Salomon und Abram wie aus einem Mund. Eine christliche Ehe schien beiden undenkbar.
»Das gälte ja sonst auch gar nicht!«, fügte Abram hinzu. »Nein, nein, das habe ich mir schon genau überlegt. Wir verraten noch niemandem etwas und ... lieben uns nur heimlich ...«
Salomon schnaubte.
»Bis wir nach Paris kommen«, endete Abram gelassen. »Von da aus senden wir Nachricht an meine Familie und an Miriams - ein paar jüdische Kaufleute soll es ja wohl noch geben, die sie mitnehmen können. Mein Vater kann dann ganz offiziell um sie werben. So lange wie das dauert, suchen wir irgendeine Unterkunft für sie, bei einer Witwe oder in einer Familie ... da findet sich schon etwas für ein ehrbares Mädchen ...«
»Und wie soll das ›ehrbare Mädchen‹ da hingekommen sein?«, fragte Salomon streng. Das interessierte auch Gerlin.
Abram legte seine Stirn in Falten. »Hm ... Verschleppt!«, strahlte er dann. »Von Sklavenhändlern. Ich konnte sie befreien, als die Gauner auch unsere Reisegruppe angriffen - dem Ewigen sei Dank wurde sie nicht missbraucht.«
Salomon verdrehte die Augen.
»Während die Brautwerbung vonstatten geht - bei der Geschichte muss ihr Vater einfach Ja sagen! -, begleite ich euch nach Loches, und auf dem Rückweg wird Miriam ganz ehrenhaft mit uns reisen. Wir müssen nur irgendeine Gesellschaft finden, bei der Frauen dabei sind ... Das schaffen wir schon! Oder ich bleibe mit ihr in Paris - falls König Philipp die Juden wirklich zurückruft. Das soll im Gespräch sein, er braucht Pfandleiher, um sein Heer zu finanzieren.«
Abram schien auch eine Ansiedlung in Paris eine gute Idee. So begeistert davon, künftig mit seiner Frau unter den Fittichen seiner zänkischen Mutter leben zu müssen, war er offensichtlich nicht. Gerlin konnte das nachvollziehen. Nach Martha wäre Frau Rachel für Miriam nur die Fortsetzung des Martyriums.
»Und was würdest du in Paris machen?«, fragte Salomon misstrauisch. »Vom Reliquienhandel leben?«
Abram schürzte die Lippen. »Warum nicht? Oder vom Fernhandel wie mein Vater. Aber Reliquienhandel ... ist lohnender. Man braucht nicht viel zu reisen ... na ja, und vielleicht stellt Miriam ja auch mal das eine oder andere Horoskop ...«
Gerlin lachte. Um das Überleben dieses Paares brauchte man sich wohl keine großen Gedanken zu machen. Vielleicht weniger als um ihre eigene Zukunft. Abrams beiläufige Bemerkung über den Rückweg hatte Gerlin wie ein Messer getroffen. Salomon hatte seinem Neffen nicht widersprochen. Auch er wollte also zurück nach Kronach. Dietmar gegenüber mochte er eine gewisse Verpflichtung empfinden, aber wenn das Kind in Sicherheit war, würde er abreisen. Gerlin bedeutete ihm nichts.
Die Reisenden erreichten nun Reims, die letzte größere Stadt vor ihrem ersten Ziel - Paris. Reims bildete den städtischen Mittelpunkt der Champagne. Die Pilger fuhren tagelang durch die Weinberge und übernachteten in umfriedeten Dörfern. Magister Martinus schwelgte in den örtlichen Winzererzeugnissen und bat seinen Schutzheiligen dann pflichtschuldig in den Kirchen von Reims um Verzeihung. Gerlin erfreute sich eher an den Badehäusern der Stadt. Sie nahm die ängstliche Miriam mit sich in ein christliches Bad, während Salomon und Abram sich mit nächtlichem Schwimmen in den Fluten der Vesle begnügen mussten. Jüdische Bäder gab es in Frankreich nicht. Jüdische Mädchen unterschieden sich aber zum Glück in keiner Hinsicht von Christinnen, sodass Miriam sich ihren Sauberkeitsbedürfnissen unbeschränkt hingeben konnte. Aufatmend wusch sie sich
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