Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Kinn auf die Brust und fixierte ihren Nasenflügel. Dann folgte sie seinem Atemrhythmus.
»Versuch, deinen eigenen Rhythmus zu finden, indem du deinen Atem bis tief in den Unterleib, ja bis in die Vagina hineinführst und ihm Gelegenheit gibst, sich in deinem ganzen Körper auszubreiten.«
Während sie der Aufforderung nachkam, so gut sie konnte, legte sich das Abendrot wie eine Stola aus leich ter, purpurner Seide auf sie. Er sah sie nicht an, als er sie bat, die Bilder und das Wissen, das Daniel Valentin Luther in seiner isra’ in ihrem Inneren verborgen hatte, zutage zu fördern. Diesem Wissen folgend würde sie auf das stoßen, was die Entführer von ihr haben wollten.
»Aber treibe dich nicht, zwing dich nicht, werd nicht ungeduldig«, warnte er sie. »Es muss alles aus dir kommen. Wie von selbst. Du musst die Wahrheit zum Fließen bringen, so wie Licht fließt, wie Wasser fließt, wie das Leben fließt und die Gedanken. Leben ist Fließen, genau wie Tod Nichtfließen ist. Es ist die böse Leidenschaft der Teufel, egal ob in Menschengestalt oder als metaphysische Vorstellung, die Poren, die Übergänge sind, zu verstopfen, damit das Fließen aufhört und wir sterben.«
»Wie bei einem Herzinfarkt.«
»Ein ausgezeichnetes Beispiel. Die Welt besteht aus Energie, manche nennen es das Wesen Gottes, andere halten es für eine physikalische Größe, wieder andere für eine Form des Geistes, noch andere begreifen alle Energie als Licht, das Fließende Licht der Gottheit, wie die Mystikerin Mechthild von Magdeburg sagt. Dabei ist es zweitrangig, als was wir diese Energie verstehen. Es kommt nur darauf an, dass du sie in dir findest und nutzt, denn sie ist es, die die Bilder und Gedanken trägt. Sie ist zu einem Teil deiner Lebensenergie geworden. Nichts anderes hat dein Großvater getan, er hat dir Lebensenergie übertragen, seine Lebensenergie, und sie in dein Selbst gelegt. Aber jetzt schweige und atme und bringe die Gedanken, mit der die Welt dich versklavt, zum Erliegen. Denn du musst die Welt überwinden.«
Unwillkürlich legte sie den Kopf in den Nacken und blickte ins Firmament hinauf. Das Rot des Himmels verglühte allmählich und wich dem aufziehenden Schwarz der Nacht. Zaghaft, aber unaufhaltsam kam ein Stern nach dem anderen zum Vorschein und sandte sein Licht zur Erde. Jeder Physiker hätte ihr erklären können, dass der Eindruck von Kühle vom Blauanteil des Lichtes herrührte, aber zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr die wissenschaftliche Erklärung gleichgültig. Sie half ihr nicht auf dem Weg, auf den sie gestoßen wurde. Niemals hätte sie ihn beschritten, wenn das Leben ihrer Kinder nicht davon abhängen würde. In ihren Gliedern brannte es wie Feuer. Sie hatte den Drang aufzustehen, sich zu bewegen, zwang sich aber, sitzen zu bleiben. Der Tanz des Abends mit der Nacht erfüllte sie mit einem Heimweh, das sie nicht zu orten vermochte. »Die Seele will nach Hause«, sagte Alfonso, der scheinbar ihre Gedanken las.
»Zu Hause, wo ist das?«
»Das erzähle ich dir, wenn Katharina und Benjamin wieder bei dir sind, vorausgesetzt, dass es dich dann noch interessiert.«
Da begriff sie, dass diese Sehnsucht nicht einen Ort zum Ziel hatte, sondern einen Zustand. Dieser Zustand, glaubte sie, bestand im Zusammensein mit den Kindern. Sie tat, wie ihr geheißen, merkte aber bald schon, wie schwierig das war. Immer wieder meldete sich eine Befürchtung, eine Erinnerung oder ein Wunsch zu Wort. Oder das Gefühl, dass ihre Beine abstarben, wurde übermächtig und störte das Loslassen.
Dann verfing sich ihr Blick in seinem Antlitz. Obwohl seine Augen offen standen, waren sie leer, blicklos, und sein Gesicht wirkte wie eine Maske, die zufällig noch da war, obwohl ihr Träger längst fort war. Sie spürte Wut in sich aufsteigen, weil sie ihr Denken nicht zum Schweigen bringen konnte, sondern immer wieder neue Gedanken ihren Kopf erfüllten. Es war verrückt: Je mehr sie ihr Denken abstellen wollte, desto lebhafter plapperte es. Dann erinnerte sie sich an ihre Fähigkeit, sich auf eine Tätigkeit konzentrieren zu können und alles andere da durch auszublenden. Aber was sollte sie tun, worauf soll te sie sich konzentrieren? Das Öffnen der Tür des Rau mes ihrer innersten Gedanken war schließlich kein Kind, das operiert werden musste. In ihrer aufkeimenden Verzweiflung versuchte Marta, sich die als Mönch verkleidete Jüdin vorzustellen, wie sie vom Schiff ging, um nach Damaskus zu gelangen.
Doch
Weitere Kostenlose Bücher