Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
die Dinge vielleicht nur noch schwieriger machen. Es ging hier nicht um sie. Also schwiegen sie.
Gespenstisch wirkten die Baumstümpfe, wenn das Licht der Schweinwerfer sie traf. Die Fahrt kam ihr endlos vor. Sie schloss die Augen. Das brachte etwas Entspannung. In ihrem Dämmerzustand sah sie ihre Kinder, die in einem kleinen Raum zusammen in einem Feldbett schliefen. Bei diesem Anblick verkrampfte sich ihr Herz, und sie riss die Augen auf, um nicht loszuweinen. Jetzt kam alles darauf an, stark zu sein. Im Umgang mit diesen Leuten musste sie an ihre Zeit bei Ärzte ohne Grenzen zurückdenken. In Afrika hatte sie sich immer um die wehrlosen Opfer viehischer Gewalt kümmern, sie manchmal sogar behandeln müssen, vor allem Frauen und Kinder. Jetzt würde sie mit Männern kämpfen müssen, die vor nichts zurückschreckten, wenn sie ihre Kinder retten wollte. Noch vor Stunden hätte diese Perspektive sie erschreckt, nun war ihr klar, dass es keinen anderen Ausweg gab, und das schenkte ihr eine seltsame Ruhe.
Die Landschaft wurde nach geraumer Zeit flacher. Im Licht blitzte auf einem gelben Untergrund der schwarze Schriftzug Friedrichshafen auf. Wenig später hielt das Auto vor einem barackenähnlichen Bau, dem kleinen Flughafen von Baden-Baden, der einmal ein französischer Militärflughafen war und nun von kleineren zivilen Flugzeu gen und Chartermaschinen genutzt wurde. Bis jetzt hatte sie sich mit ihrer Vermutung nicht geirrt. Das gab ihr Hoffnung, weil es ihr das Gefühl vermittelte, ihren Feinden einen Schritt voraus zu sein.
Die Formalitäten waren schnell erledigt, dann gingen sie aufs Rollfeld. Sie blickte kurz zu den Sternen hinauf, bevor sie die kleine Dornier bestieg. Im Flugzeug erwarteten sie drei Männer mittleren Alters. Es war zwecklos, sie etwas zu fragen. Sie konnten ihr nichts sagen, was sie nicht ohnehin schon wusste. Eine kleine, absurde Freude überkam sie, als ihre Intuition ihr sagte, dass ihre Kinder in der Maschine gesessen hatten. Der Weg stimmte also. Nun endlich folgte sie ihnen.
Zweimal landeten sie, um aufzutanken, dann schweb ten sie wieder durch die Nacht unter dem Sternenzelt wie auf hoher, aber ruhiger See. Marta versuchte, ein wenig zu schlafen, denn sie würde bald schon alle Kraft brauchen, die ihr zur Verfügung stand.
Bei Sonnenaufgang landeten sie in einer Stadt am Meer. Sie erkundigte sich bei Achmed.
»Trabzon«, sagte der gleichgültig. »Jetzt geht weiter mit den Jeeps.«
Sie würden also in der alten Hafenstadt am Schwarzen Meer landen und dann durch die Nordtürkei südlich am Kaukasus vorbei in den Iran fahren.
Es waren zwei Jeeps, die die Bergstraße nach Täbris nahmen. Wäre sie als Touristin unterwegs, hätte sie die Landschaften genossen, die hohen Berge mit ihren vom Schnee silberweißen Rücken und Gipfeln, die steilen Schluchten, durch die sich Wildbäche schlängelten. Die Grenzübertritte verliefen unproblematisch. Achmed sprach jeweils nur ein paar Worte mit dem verantwortli chen Offizier. Sie mussten sich nicht einmal ausweisen. Zweimal hielten sie unterwegs, um Tee zu trinken, etwas zu essen und austreten zu gehen oder zu tanken. Nach fünf zehn Stunden erreichten sie den großen Salzsee von Urmia. Im Abendsonnenlicht glitzerten die Salzkristalle, in die sich der See an den Ufern zu verdicken schien. An seiner schmalsten Stelle überquerte ihn eine lange Brü cke, die wie ein Wall wirkte und den See in zwei Hälften teilte. Marta indessen interessierte sich nicht für die Landschaften, sondern versuchte, Kontakt zu ihren Kin dern aufzunehmen, aber in dem holpernden Wagen woll te ihr die Meditation nicht gelingen. Noch nicht, später vielleicht, dachte sie und beschloss, es immer wieder zu probieren. Sie musste sich innerlich nur von ihren Bewa chern lösen.
Sie hatte gehofft, dass sie in Täbris übernachten würden, aber Achmed gönnte ihnen nur eine kurze Pause, dann ging es weiter. Im Dunklen rasten sie nun mit halsbrecherischem Tempo durch die Bergwelt westlich des Kaspischen Meers.
Sie schloss die Augen. Und sie sah ihre Kinder. Nun traten ihr doch Tränen in die Augen, denn sie hörte Katharina, die ihrem kleinen Bruder ein Märchen erzählte, in dem eine große Ritterin kommen würde und sie aus den Fängen des bösen Zauberers befreien würde. Ihre tapfere Katharina streichelte ihren kleinen Bruder, tröstete ihn, wo sie doch selbst Trost brauchte, und redete ihn in den Schlaf. Dann verblasste das Bild, und Marta wurde schwindelig…
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