Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
36
H afis zeigte auf die Burg auf dem gegenüberliegenden Berg. Sie wirkte verlassen. Eine Ruine. Maria erstarrte. Hatten sie sich geirrt? Waren sie am falschen Ort?
Hafis warf ihr einen resignierten Blick zu. Sollte alles umsonst gewesen sein? Es hieß zwar, die Mongolen hätten die Burg gestürmt, verwüstet und die Herrschaft des Alten vom Berge gebrochen, aber er hatte nicht daran geglaubt. Und nun schienen sich die Gerüchte zu bestätigen.
»Sie haben sich eingegraben. Warten wir die Dunkelheit ab«, sagte sie und setzte sich. Schweigend verbrachten sie die Zeit, bis die Nacht endlich ihre schwarze Decke über die Bergwelt gebreitet hatte. Dann stiegen sie den Berg hinab und schlichen durch die Talmulde. Langsam und stets Deckung suchend erklommen sie den Festungsberg. Ihre Vorsicht hatte etwas Überflüssiges, denn in der Ödnis des Gesteinsschutts war keine Menschenseele zu sehen. Sie passierten ein Tor, das keine Flügel mehr besaß, kletterten dann, weil es Maria zu gefährlich erschien, den Serpentinenweg ins Innere der Festung zu nehmen, die verwitternden Mauern hinauf. Als sie durch ein Loch in der oberen Wehrmauer auf den inneren Platz der Festung gelangten, hörten sie Schritte und versteckten sich im Eingang eines Turms. Zwei Männer, gekleidet wie die drei Mörder, die sie in Fès überfallen hatten, patrouillierten über den Hof. Triumphierend schaute Maria zu Hafis, dessen Lächeln Freude und Bewunderung ausdrückte.
Als die beiden Wachleute an ihnen vorüber waren, schlichen sie schnell und lautlos wie Katzen über den Hof in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren. Vor ihnen erhob sich eine Langhalle. Durch die Tür schlüpften sie ins Innere. Das Dach war teilweise eingestürzt. Holzbarren und Ziegel lagen auf dem Boden verstreut herum und zerfielen. Sie legte den Finger auf die Lippen und bedeutete dem Perser durch Handzeichen, dass sie jetzt wie die beiden Wachposten quer durch die Halle gehen würden.
Sie hatten das Langhaus fast durchquert, als eine Stimme aus dem Dunklen heraus sie streng auf Persisch fragte, warum sie von ihrer Patrouille schon zurückkehrten.
»Wir haben eine wichtige Meldung zu machen«, antwortete Hafis.
»Bleibt dort stehen!«, befahl die Stimme.
Maria konzentrierte sich darauf, die Dunkelheit zu durchdringen. Allmählich machte sie Schemen aus. Fünf Männer bewachten den Eingang zur unterirdischen Fes tung. Als eine der Wachen ihnen so weit entgegengekom men war, dass sie ihn erreichen konnte, schnitt sie ihm blitzschnell mit dem Dolch die Kehle durch. Hafis trat rasch hinzu und fing den toten Köper auf, bevor er fallen konnte, und ließ ihn zu Boden gleiten. In Windeseile zog er sich die Kleidung des toten Assassinen über, setzte dessen Helm auf und hielt den Kopf gesenkt, während sie sich weiter dem Eingang näherten. Maria spürte die wachsende Unruhe der dort postierten Männer. Einer von ihnen fragte den Abgesandten etwas, von dem sie noch nicht wussten, dass er tot war.
Jetzt waren Maria und Hafis nah genug heran. Sie zog ihr Schwert und ging, einmal nach rechts und nach links austeilend, durch die überrumpelten Wachen, die durch ihre Streiche enthauptet oder mit zertrümmertem Schädel zu Boden gingen. Schnell zog auch sie sich die schwarze Kleidung eines der Assassinen an. Dann wünschten sie sich Glück und begannen, die breite Treppe hinabzustei gen. Auf dem ersten Podest, das sie erreichten, töteten sie lautlos die beiden Wachposten und stiegen weiter in einen Luftschacht, der für Maria gerade noch ausreichend breit, für Hafis aber fast zu schmal war. In den Fugen fanden sie beim Klettern mühsam Halt. Schweiß überströmte sie, der Weg hinab schien endlos zu sein. Je tiefer sie kamen, desto deutlicher wurde die Musik, die in ihrer Leichtigkeit himmlisch, ja paradiesisch klang.
Durch ein Gitter konnten sie jetzt in das Innere eines Raumes sehen, der mit Teppichen und weichen Kissen ausgestattet war. Junge Männer mit verzückt-entrückten Gesichtern lagen halbnackt oder nackt auf Polstern und träumten mit offenen Augen, aßen und tranken oder wurden von jungen Frauen mit Zärtlichkeiten verwöhnt. Hasans Paradies, dachte sie. Kerzen in rosa- und purpurfarbenen Lampionschirmen verbreiteten ein diffuses Licht. Eine wohlklingende Stimme rezitierte Verse aus dem Koran. Maria gewöhnte sich allmählich an das dämmrige Licht und erkannte, dass sich der Raum nach hinten hin zu einem großen Bassin öffnete. Ein dichter Nebel aus
Weitere Kostenlose Bücher