Das Geheimnis der rotgelben Spinne
keinen weiteren Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und sie war heilfroh, als die Hütte in Sicht kam.
Tini lag auf der Terrasse im Schatten des großen Daches. Ihr Fuß war tatsächlich wieder angeschwollen nach dem gestrigen Marsch und der blaue Fleck hatte beachtliche Ausmaße angenommen.
Der alte Ziegenhirt setzte sich zu ihr auf die Bank und machte ein Gesicht, als ginge es darum, eine lebensrettende Operation vorzunehmen. Dann begann er den Fuß Zentimeter für Zentimeter abzutasten. Die Haut seiner Finger war rissig und rau und kratzte wie Schmirgelpapier. Als er eine Stelle unterhalb des Knöchels betastete, drückte er ein wenig fester. Tini zuckte zusammen und stieß einen Schrei aus. Der Alte lächelte stolz.
„Da tut’s weh, ja, da tut’s weh, gut, gut.“
Dann begann er in seiner Tasche zu suchen und holte einen Topf mit einer gelben Salbe heraus, dem er ein erbsengroßes Bröckchen entnahm und auf der schmerzenden Stelle verrieb. Es stank nach ranzigem Schweinefett und einem scharfen Kraut. Ziegen-Wasti machte mit seinem linken Zeigefinger kleine kreisende Bewegungen, dabei murmelte er unverständliche Sprüche, eine Mischung aus Gebeten und einer Aneinanderreihung von Heiligennamen.
„Es wird ganz heiß!“, flüsterte Tini.
Tina wagte nicht zu sprechen, solange der Alte mit geschlossenen Augen seine Beschwörungen vor sich hin murmelte. Verzweifelt dachte sie darüber nach, wie sie den Ziegenhirten daran hindern konnte sofort nach der Behandlung wieder aufzubrechen. Zwar befand sich Tobbi inzwischen sicher längst im Inneren des verschütteten Bergwerks, aber wie sah es mit seiner Rückkehr aus? Würde es ihm gelingen von Ziegen-Wasti unbemerkt aus dem Steinbruch herauszukommen?
Jetzt schwieg der Alte. Er stand schwerfällig auf und ging zur Wiese hinüber. Tina und Tini sahen sich fragend an. Ziegen-Wasti sah sich suchend um, dann hatte er entdeckt, was er brauchte. Er bückte sich nach einem breitblättrigen Kraut, riss ein paar große Blätter ab, glättete sie ein wenig, wobei er ein paar beschwörende Worte murmelte. Dann kam er zurück und legte die Blätter auf Tinis Fuß. Während er sie mit einer Hand festhielt, machte er Tina ein Zeichen, ein Tuch oder einen Verband zu holen. Tina brachte ihm ein sauberes Küchentuch und Wasti umwickelte den Fuß damit. Noch einmal flüsterte er etwas und machte das Kreuzzeichen. Damit war die Behandlung beendet.
„Bis heute Abend drauflassen“, nuschelte er. „Hörst du? Und nicht laufen. Morgen wird es gut sein.“
„Vielen, vielen Dank!“, sagte Tini überschwänglich.
„Ja, wir danken Ihnen sehr herzlich!“, stimmte Tina ein. „Dürfen wir Ihnen etwas anbieten? Was kostet die Behandlung? Was ist das für eine tolle Salbe?“, sprudelte sie heraus um den Alten um jeden Preis festzuhalten.
„Die Salbe? Das ist Wastis Geheimnis. Die gibt’s nicht für Geld. Die kennt allein der alte Wasti“, sagte der Ziegenhirt voller Stolz. „Gibt viele Doktor in der Stadt und in den Dörfern, aber keiner hat eine Salbe wie der alte Wasti!“
„Darf ich Ihnen denn etwas zu trinken anbieten?“ Die Augen des Alten leuchteten auf.
„Was zu trinken, ja, warum nicht. Ein kleiner Schluck kann nicht schaden.“
Blitzartig wurde Tina klar, dass mit dem kleinen Schluck weder Tee noch Milch gemeint war. Was tun? Doch halt, im Eckschränkchen hatte sie vorgestern eine Flasche Klostergeist entdeckt. Der war bestimmt das Richtige für den alten Hirten.
Sie hatte recht vermutet. Beim Anblick der Flasche wurde der alte Wasti ganz vergnügt und kaum hatte er ein Gläschen von der öligen, hellen Flüssigkeit genossen, wurde er gesprächig. Tina und Tini atmeten auf. Mit dieser Medizin würden sie ihren Gast eine Weile halten können, auch wenn er immer wieder sein Bedauern darüber aussprach, dass sie nicht mittrinken wollten. Von nun an brauchten sie nur eine Frage zu stellen und schon sprudelten die tollsten Geschichten aus dem alten Ziegenhirten heraus, Geschichten von Berggeistern und Gespenstern, von wundersamen Rettungen aus Bergnot, von einem Gamsbock, der die Weisheit und den Verstand eines Menschen besaß, seinen Jägern immer wieder entkam, indem er sie in eine Falle lockte, und der angeblich unsterblich war.
Während die beiden Mädchen gebannt an den Lippen des alten Hirten hingen und seinen abenteuerlichen Erzählungen lauschten, war Tobbi bereits tief in den Schacht eingedrungen.
Etwas unheimlich war ihm doch zu Mute, als er
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