Das Geheimnis der Salzschwestern
Tasche gefunden hatte, als sie sie hochgehoben und zum Truck getragen hatte, und faltete das Papier auf ihrem Schoß auseinander. Augenblicklich sprang ihr Idas aggressive Handschrift ins Auge, voller spitzer Kanten und Zacken. Jo sah, dass Idas Worte inzwischen zwar verblichen waren, sie sich im Laufe der Zeit aber nicht geändert hatten.
Sie las:
Mein Ein und Alles,
vielleicht erstaunt es Dich ja, dass ich Dir diese Perle nach all den Jahren wieder zurückgebe. Ich habe sie behalten, obwohl es unklug war, und das bereue ich nun, da selbst dieses eine Andenken eine Gefahr für uns darstellt.
Diesen Brief schreibe ich jedoch nicht voller Reue, sondern fest entschlossen. Ich habe mich in dieser Stadt aus der Gosse bis ganz nach oben hochgearbeitet, und ich habe nicht vor, mich von den Fehlern der Vergangenheit wieder nach unten ziehen zu lassen. Vor Jahren habe ich an einem schneereichen Tag eine Entscheidung getroffen, und ich habe nicht die geringste Absicht, diese jetzt zu widerrufen.
Du solltest wissen, dass ich für meinen Reichtum einen hohen Preis gezahlt habe. Dich ansehen zu müssen, zum Beispiel, und unsere Tochter. Ich weiß, dass ich nicht gut zu ihr war – ganz im Gegenteil –, aber allein ihr Anblick schmerzt mich. Ihre Existenz ruft mir alles in Erinnerung, was ich doch eigentlich vergessen wollte. Es ist schon seltsam, dass die Gegenwart einer einzigen Person wieder heraufbeschwören kann, was wir doch unbedingt unterdrücken und verbergen wollen. Dass ich grausam zu ihr war, war doch nur zu ihrem eigenen Besten. Wie ironisch, dass ich meine Zuneigung immer nur durch Boshaftigkeit ausdrücken konnte!
Was wäre wohl geschehen, wenn ich mich damals nicht von Dir hätte küssen lassen? Und was, wenn die Frauen der Temperenzler-Wohlfahrt Joanna weit weg geschickt hätten, so wie Du es gewollt hattest? Wenn ich eine bessere Frau gewesen wäre? Wenn ich Sarah Gilly in dieser fürchterlichen Sturmnacht nicht mit ihrem eigenen Baby im Arm zu den Füßen der Jungfrau vorgefunden hätte?
Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Eins habe ich vom Leben auf Plover Hill gelernt: So hoch über allem anderen hat man eine wunderbare Aussicht, aber man ist den Menschen auch fern. Und am Ende ist das vielleicht das Beste.
Ich erzähle Dir das alles jetzt nur, um eine zukünftige Katastrophe zu verhindern. Es gibt viele Gründe dafür, warum Joanna Gilly nicht das richtige Mädchen für meinen Sohn ist, aber nur ein einziger davon bereitet mir schlaflose Nächte – und Dir sollte es ebenso ergehen.
Bislang habe mich deshalb nie bei Dir gemeldet, aber jetzt möchte ich Dich bitten, mir diskret zu Hilfe zu kommen. Einst hast Du mir schließlich angeboten, alles für mich aufzugeben, auch wenn ich das damals nicht wollte. Ich denke, ich wusste bereits, dass das nur zu Streit und Elend führen würde, und ich war fest entschlossen, einmal glücklich zu werden. Und das bin ich trotz allem auch geworden. Vielleicht entspricht es nicht der Logik, vielleicht ist es auch falsch, aber dieses Urteil wird einst über meine unsterbliche Seele gefällt, nicht auf dieser Welt und mit Sicherheit nicht von Dir. Magna est veritas, et praevalibet.
Obwohl die Zeit voranschreitet, bleibt ein Teil von mir doch auf ewig Dein.
Jo faltete den Brief wieder zusammen und unterdrückte den alten Zorn, der in ihr aufstieg. Sie hatte immer geglaubt, dass Ida sie gehasst hatte, aber die Wahrheit war viel komplizierter. Jo begriff nun, dass Ida sie zwar nicht geliebt, sie aber auch nicht verachtet hatte. Sie hatte sie einfach bereut, das traf es wahrscheinlich am besten. Und dazu kam dann noch die große Scham. Es war also gar nicht so, dass Jo nicht gut genug für Whit war – stattdessen war sie zu gut. Tatsächlich war sie genauso gut wie er, entsprang demselben Geschlecht, und durch ihre Adern floss dasselbe Blut. Unter anderen Umständen hätte Jo vielleicht sogar selbst als Turner enden können und wäre nicht durch ihre Freundschaft, sondern durch ihren Namen mit Whit verbunden gewesen. Alte Wut brodelte in ihrer Brust, zusammen mit all den Fragen, die sie jahrelang heruntergeschluckt hatte, aber die Menschen, die darauf hätten antworten können, waren entweder tot, so wie Mama und Ida, oder fort, so wie Jos lang verschollener Vater.
Läuft es denn nicht immer so, fragte sich Jo und schob den Brief zurück in ihre Jackentasche. Die Gegenwart riss die Vergangenheit mit sich wie ein Fluss, der sein Ufer reinigt. So sollte es
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