Das Geheimnis der Salzschwestern
aufeinandertrafen. Sie lebte schon so lange hier, dass ihr das raue Leben im Sumpf nichts mehr ausmachte, aber für Claire, die dieses Land ja nie so geliebt hatte wie Jo, traf das nicht zu. Icicles Tod erinnerte Jo wieder daran, dass ihre Schwester hier an einen Ort zurückgekehrt war, an dem sie die Augen nicht vor den Problemen der Welt verschließen konnte.
Jo entdeckte, dass Claire bei Anbruch der Dunkelheit zwischen den Becken umherwandelte, als die Fliegenschwärme langsam den ersten Fledermäusen der Nacht wichen. Diese Flattertierchen vermied Claire sonst tunlichst, heute Abend bemerkte sie sie aber nicht einmal. Ihr Gesicht hatte die Farbe des Sandes angenommen, und ihre Augen waren zwei blanke Knöpfe, so wie damals, als sie die Scheune in Brand gesetzt hatte. Wenn Claire etwas wirklich an die Nieren ging, wurde sie zu einer wandelnden Puppe. Dann konnte man nichts mit ihr anfangen.
»Was ist denn nur los?«, rief Jo zu ihr hinüber. »Ist mit Jordy alles in Ordnung?« Beim Gedanken an den Kleinen – der mit seinem runden Bäuchlein so süß wie ein Küken war – schlug ihr das Herz in der Brust, aber Claire schüttelte nur den Kopf, griff nach Jos guter Hand und zog sie zur Scheune hinüber, die roten Haare laut wie eine Sirene. Wenigstens stand das Gebäude noch, stellte Jo erleichtert fest.
»Mach die Tür auf«, forderte Claire sie auf und schlug sich die Hand vors Gesicht. »Ich bring es nicht über mich.«
Jo tat wie geheißen und blinzelte ins Dämmerlicht. Zunächst begriff sie gar nicht, was sie da sah. Sie dachte, Icicle hätte vielleicht einen Anfall erlitten oder wäre krank, aber dann brach Claire in Tränen aus und würgte krächzende Worte hervor. »Er ist tot«, schluchzte sie. »Oh, Jo, er ist tot.«
Jo ging in die Scheune hinein. Heute Morgen war Icicle doch noch putzmunter gewesen, er hatte mit den Hufen gestampft und leise gewiehert, als er ihre Schritte vernommen hatte. Sie kniete sich neben seinen leblosen Körper, während ihr vom Bauch aus langsam ein furchtbares Gefühl in die Brust aufstieg. »Was ist denn bloß passiert?«, fragte sie. Selbst sie wusste, dass ein Pferd in der Blüte seines Lebens nicht einfach grundlos tot umfiel.
Claire ließ die Hände sinken. Jo sah, dass ihre Wangen langsam wieder ein wenig Farbe bekamen. »Jetzt sei doch nicht dumm, Jo. Das war natürlich Whit!«
Jo beugte sich über Icicle. Er war so ein schönes Tier. Ihn ganz still daliegen zu sehen, tat ihr im Herzen weh. Sie rieb ihm über die Flanke.
Claire schniefte. »Was glaubst du, wie hat er das gemacht?«, fragte sie, aber Jo war doch nur Salzbäuerin und keine Detektivin. Sie zuckte mit den Achseln, und Claire nickte. »Wahrscheinlich hast du recht, eigentlich ist das völlig egal. Was auch immer es war, es hat funktioniert – und zwar schnell. Jo«, Claire sah zu ihr auf, und ihre Augen nahmen schon wieder diesen glasigen Glanz an, »wir müssen etwas unternehmen. Er ist von diesem Land noch viel besessener als Ida, und wir wissen beide, dass er alles dafür tun würde.« Claire wurde blasser, und ihre Haut hatte nun nicht mehr die Farbe des Sandes, sondern war grau wie Asche. »Könnten wir nicht eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken?«
Jo kaute an ihrem Daumennagel. »Aber wir haben doch gar keine Beweise dafür.«
Claire nickte. »Das stimmt. Und außerdem hat Whit ja jeden einzelnen Politiker das Kap rauf und runter in der Tasche, und die Gesetzesvertreter sowieso.« Sie wurde rot, als sie daran denken musste, wie sie das wegen der Sache mit dem Dezemberfeuer für sich ausgenutzt hatte.
Jo schnaubte. »Wann hat Whit denn je auf Gesetzestreue Wert gelegt? Wenn er glaubt, dass er mit einer Sache durchkommt – was ja meistens der Fall ist –, dann legt er einfach los und tut es.«
»Was sollen wir also machen?«
Jo betrachtete Icicles leblosen Körper und erschauderte. »Ich weiß auch nicht.« Drei Frauen und einem Kind, die weit draußen auf einem abseits gelegenen Gut lebten, konnten so einige seltsame Unfälle widerfahren. Auf ihrem Rücken bildeten sich Schweißperlen, und sie wandte sich von ihrer Schwester ab. Lass es raus, drängte eine Stimme in ihrem Inneren. Genug ist genug. Claire und sie hatten sich lange genug die Schuld für zu viele Dinge zugeschoben. Zitternd atmete Jo einmal tief durch.
»Ich weiß, dass das jetzt kein guter Zeitpunkt ist, aber ich muss dir etwas Furchtbares sagen. Ich habe heute einen Anruf von unserem Freund Mr Monaghy erhalten.
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