Das Geheimnis der Salzschwestern
Bei dem Fahrtwind war es schwierig, sich vernünftig zu unterhalten, aber das war für Claire ganz in Ordnung, denn im Moment fühlte sie sich so giftig wie ein Skorpion mit seinem Stachel. Sie erreichten die Landstraße, die zum Gut führte. Aus der Entfernung zeigte die Marsch das für den Sommer typische Patchworkmuster mit seltsamen, intensiven Farben – Lila, Grün, Rostrot und Braun. Hitze und Sonne brachten Algen und Mikroorganismen mit sich, und der Schlamm der Salzbecken erblühten wie ein Harlekinmantel.
Jo und Claire hatten seit dem Krankenhaus immer noch nicht über Idas Brief gesprochen, und genau wie die Sommerhitze lastete dieses Thema immer erdrückender auf ihnen. Wenn Jo doch die ganze Zeit von ihrer Verwandtschaft mit Whit gewusst hat, überlegte Claire, warum war sie dann so wütend, als ich ihn geheiratet habe? Denn Jo selbst konnte das ja nicht, allein die Vorstellung war schon gruselig. Claire fragte sich, ob Jo und Whit sich wohl geküsst hatten, bevor Jo den Brief in die Finger bekommen hatte, und ob Whit etwas von ihrer wahren Beziehung ahnte. Falls ja, hatte er es gut überspielt.
Ich sollte den Brief verbrennen, dachte Claire. Der lag jetzt oben in der Schublade ihres Sekretärs. Sie hatte ihn in der Klinik an sich genommen und Jo nie wieder zurückgegeben, aber ihre Schwester hatte auch nicht danach gefragt. Trotzdem hatte Claire gar kein Recht, das Schreiben zu behalten, und ihr wurde auch klar, wie sehr die Bürde ihrer Schwester, die sie da trug, sie selbst belastete. Die Wahrheit war jetzt heraus, und man konnte im Leben ja auch nicht ewig Buße tun.
Die Zikaden sangen, und am Horizont flatterten Pelikane auf und nieder wie eine Bomberstaffel. Der Abend legte sich über die Marsch wie ein Seidentuch. Icicle würde sich jetzt bestimmt über einen Ausritt am Strand freuen, wo er sich in der Brandung abkühlen konnte, und dann würde Claire ihn füttern. So langsam hatte sie das Gefühl, dass der Knoten, den sie seit dem Bauernmarkt in der Magengrube spürte, sich endlich löste. Bei dem kleinen Ausflug würden sich dann auch ihre Muskeln vielleicht endlich entspannen, und sie könnte wieder frei atmen. Als sie zur Scheune hinüberging, entdeckte sie zu ihrem Erstaunen, dass die Tore offenstanden, was seltsam war. Sie hatte doch besonders darauf geachtet, hinter sich zuzumachen. Mit gerunzelter Stirn schob sie die Tür weiter auf. Aus dem Inneren schlug ihr Hitze entgegen, und dann erstarrte sie.
Icicle lag auf dem Boden, die Hufe noch im Heu. Seine Flanken waren steif und die Nüstern trocken. Über ihm drehten bereits Fliegen ihre Kreise. Ungläubig sank Claire auf die Knie und legte ihm die Hand auf die loyale Brust. Aber sie wusste längst, dass er nicht mehr von Leben erfüllt war. Für einen Moment schnappte sie nach Luft, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst, dann ließ sie den Kopf auf seinen Körper sinken und stieß lautes Wehklagen aus. Schniefend schloss sie ihm die ernsten Augen und rieb ihre Wange an seiner. Sie wünschte sich so sehr, ihm in seinen letzten Minuten Beistand geleistet zu haben. Und noch viel mehr wünschte sie sich, sie hätte ihn retten können, denn Icicle war für sie viel mehr als nur ein Pferd gewesen. Er hatte die edlere Seite ihrer Seele verkörpert. Ohne ihn war Claire sich nicht sicher, wie viel Gutes noch in ihr steckte. Sie fuhr mit der Hand über seine Ohren und den Schopf, dann strich sie seinen Hals entlang. Als sie das Stroh rund um seinen Körper durchsuchte, fiel ihr Blick auf ein winziges Stück Papier. Es war die Verpackung eines Zimtkaugummis, den Whit so gern mochte. Claire griff danach und nahm es unter die Lupe. Darin war kein versteckter Code notiert, das Papier trug kein geheimes Zeichen an sie. Aber solche Tricks waren auch gar nicht Whits Stil. Trotzdem war die Nachricht eindeutig genug. Jetzt konnte Claire nur noch eins retten, nämlich sich selbst.
K APITEL 26
J o war sich natürlich dessen bewusst, dass der Tod auf der Salt Creek Farm ständig zugegen war – es starben dort Vögel, die sich auf ihr Land verirrten, der jährliche Katzenwurf, den sie ertränken musste, jede Menge Insekten und auch kleine Jungen. Einige dieser Kreaturen fanden durch ihre Hand den Tod und andere durch eine größere Macht, aber Jo betrauerte sie alle. Manchmal hatte sie das Gefühl, die Marsch sei nichts weiter als eine tiefe Wunde im Fleisch der Erde, ein fauliger Ort, an dem Diesseits und Jenseits
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