Das Geheimnis der Salzschwestern
eigenen Händen zerstören konnte, dann würde sie einfach dabei zusehen, wie sie ganz von selbst unterging. Und wenn es dazu noch eines kleinen Anstoßes bedurfte, na ja, dann würde sie da sein, und zwar zu allem bereit.
K APITEL 4
A m Morgen nach der ersten offiziellen Lieferung von Joanna Gilly stellte Dee kleine Schüsselchen mit dem Salz auf – eins pro Tisch und noch ein paar auf dem Tresen –, so wie Jo es ihr gesagt hatte. Nachdem sie auch die letzte Schale befüllt hatte, steckte sie den Finger hinein und leckte daran. Die Körnchen knisterten auf der Zunge und schickten kleine Stromstöße vom Mund ins Gehirn, sie machten sie zugleich wach und verträumt. Wenn ihr Vater nicht hinsah, gab sie heimlich etwas von dem Salz auf die Kartoffeln, die er fürs Mittagessen zubereitet hatte. Es schien ihm nicht aufzufallen, allerdings nahm er sich noch eine zweite Portion. Mr Weatherly zwinkerte Dee zu und nickte beifällig.
»Wie ich sehe, haben Sie meinen Rat angenommen und Jo Gillys Salz gekauft«, bemerkte er. »Das war ein kluger Schachzug. Claire behauptet zwar seit Jahren, es sei verdorben, und hat damit den Großteil der Stadt abgeschreckt, ich habe aber nie auch nur einen Hinweis darauf gefunden, dass das Zeug schlecht wäre. Von jetzt an geht es hier bergauf, Sie werden schon sehen. Es dauert vielleicht noch ein, zwei Tage, aber dann kommen die Leute, selbst wenn sie das Salz vielleicht nicht benutzen.« Er wischte sich die langen Finger an einem sauberen Taschentuch ab. Er war noch damit beschäftigt, draußen die Schindeln auszubessern, innen war das Lokal jedoch nicht wiederzuerkennen. Cutt hatte das schwarz-weiß gemusterte Linoleum sowie die dunkelroten Stühle und die mit neuem Leder bezogenen Bänke in den Nischen beibehalten, die Fensterrahmen und Sockelleisten jedoch dunkler gestrichen. Die Wandverkleidung hatte er in einem Cremeton aufgehellt und ein paar Bilder von Schiffen aufgehängt, die er günstig einem bankrotten Motel in Wellfleet abgekauft hatte.
Dee und er waren zum Schrottplatz gefahren und hatten dort Messinglaternen gefunden, die sie als Lampen benutzten, außerdem ein paar Fischernetze und gläserne Bojen. Letztere fand Dee irgendwie geheimnisvoll, wie die Glaskugel einer Wahrsagerin. Sie hatte die trüben gläsernen Bälle vorsichtig in den Kofferraum des Autos gerollt, sie mit den Netzen gesichert und sich gefragt, was ihre eigene Zukunft wohl für sie bereithielt. Ringsumher war alles flach und offen – die langen Sandstreifen der Strände, die sich über Meilen erstreckenden sanften Dünen, und natürlich das Meer selbst. So ein Ort verführte einfach dazu, über die Zukunft nachzugrübeln, das Wetter brachte diese Gedanken von der See her mit sich.
Nun erschauderte Dee und sah durch die großen Fenster des Restaurants nach draußen. Der Wind wurde von Tag zu Tag kälter. An diesem Nachmittag hatte er das Laub von den wenigen Bäumen in der Stadt gefegt und jagte sie nun auf dieselbe gelangweilte, grausame Weise herum, wie eine Katze mit einer Maus spielte. Das papierne Rot der Blätter war so ziemlich der einzige Farbtupfer. Dee konnte sich bereits vorstellen, wie trostlos es hier außerhalb der Saison sein würde. In Vermont waren die Tage im Winter so blau und strahlend gewesen, dass die Luft geradezu vibriert hatte. Die Leute hatten dann ihre Ski hervorgeholt, die kleinen Kinder waren Schlitten gefahren, und es hatte ein Winterfest mit heißem Kakao, Schneeballschlachten und Eishockeyturnieren gegeben. Dee konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Leute wohl im feuchten und farblosen Prospect taten, um sich zu amüsieren. Niedergeschlagen lehnte sie sich über die Theke und legte ihre Gabel neben den Teller. »Also«, sagte sie zu Mr Weatherly, den Mund voller Pommes, »was unternehmen die Leute hier eigentlich im Winter so?«
Mr Weatherly verzog finster die Miene, und Dee überlegte, dass sie da vermutlich den Falschen gefragt hatte. Mr Weatherly war so steif und verschroben, dass er wahrscheinlich seit seiner Jugend keinen Spaß mehr gehabt hatte. Damals hatte man bestimmt noch bei Tanztees eine kesse Sohle aufs Parkett gelegt. Aber das machte doch heutzutage niemand mehr, nicht einmal in Vermont. Jetzt gab es überall nur noch pulsierende Lichtblitze und Diskomusik. Mr Weatherly wischte sich über die Lippen. »Meinst du das Dezemberfeuer?« Versuchsweise nickte Dee. Mr Weatherly zerknüllte seine Serviette. »Am 30. November, am Tag vor dem 1.
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