Das Geheimnis der Salzschwestern
mit dem Pferd unterwegs war, fuhr sie in einem weinroten Cabrio in die Stadt und sah mit dem zurückgeklappten Verdeck, das sie den Elementen aussetzte, genauso aus wie auf dem Pferderücken – als würde sie vor dem Fegefeuer fliehen. Dee wartete bereits auf sie, das Ganze wurde sogar zu einer Art Spiel zwischen ihnen. Claire stolzierte herein, und Dee griff nach der Speisekarte. Bevor Claire sich setzte, ließ sie Dee das Salz vom Tisch entfernen. Erst dann schob sie sich in die lederne Bank und fragte: »Was kannst du mir heute empfehlen?«
Dees Antwort fiel je nach Wochentag anders aus. Dienstags gab es Kartoffelpuffer und freitags Pfannkuchen, das war aber eigentlich auch egal, weil Claire immer das Gleiche bestellte: ein gekochtes Ei auf weißem Toast und Kaffee mit extra viel Milch. Am Anfang schrieb Dee es sich noch auf, aber nach einiger Zeit verzichtete sie darauf. Sie marschierte zurück in die Küche, um die Bestellung aufzugeben, und fragte sich, warum eine Frau mit solch flammendem Haar und grünen Augen wohl so langweilige Sachen aß. Stimmte es vielleicht doch, war das Salz wirklich giftig? Nichts, was Claire bestellte, war gewürzt, und dennoch sah Dee sie niemals nach dem Salz greifen. Vielleicht hatte sie dafür wirklich gute Gründe.
Bald wusste Dee, in was für Farben Claire sich gern kleidete – in Grün- und Blautönen – und kam zu dem Schluss, dass sie furchtbar schlechte Laune hatte, wenn ihre Haare ganz straff hochgesteckt waren. Wenn sie fertig gegessen hatte, hinterließ sie auf dem Tisch ihre dreifach gefaltete Serviette und ein lächerliches Trinkgeld. Für eine reiche Dame, dachte Dee, war Claire ziemlich geizig. Abgesehen von der Bestellung kam ihr kein weiteres Wort über die Lippen, nicht einmal ein Danke. Sie hockte einfach nur da wie die Sphinx, hatte die Beine überschlagen und starrte auf die offene Zeitung vor ihr. Du hast keine Ahnung, wer ich bin, dachte Dee, während sie Claires Teller auf den Tisch stellte, ich aber lerne hier nach und nach alles über dich. Sie bemerkte die ausgefranste Nagelhaut an Claires Händen und schlussfolgerte, dass ihre Kundin an den Nägeln kaute, genau wie sie.
Von der Angestellten im Postamt erfuhr Dee, dass Claire in den letzten zwölf Jahren nicht einen einzigen persönlichen Brief bekommen hatte. »Hier kommen nur Sendungen für ihren Mann Whit an«, erklärte die ältliche Dame, während sie Dee Cutts Rechnungen reichte. »Stell dir das nur vor. Nicht einmal eine Zeitschrift. Nichts. Selbst Einladungen sind an sie beide adressiert. Man sollte doch meinen, dass ihr Exfreund, nach dem sie früher so verrückt war, dann und wann mal schreibt. Na ja, vielleicht ist das ja auch keine besonders gute Idee, wo der doch jetzt Priester ist und so.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber gegen eine Weihnachtskarte ab und zu könnte man doch wirklich nichts einwenden. Na ja, vermutlich wäre Mr Turner davon nicht so begeistert.«
Dee schob die Umschläge zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Hinter ihrer Stirn arbeitete es fieberhaft. In so einer kleinen Stadt wie Prospect gab es nicht viel zu tratschen, da war Claire natürlich ein gefundenes Fressen. Dee erinnerte sie an eine der sündigen Frauen aus dem Alten Testament: vielleicht Bathseba oder Isebel oder Rahab mit ihrem roten Band, das aus dem Fenster hing. Diese Frauen waren nicht einfach irgendwie in Schwierigkeiten geraten, die hatten selbst große Pläne.
»Was denn für ein Exfreund?«, fragte Dee so beiläufig, wie sie nur konnte. Die Postangestellte sah sie blinzelnd an. Ständig musste man Dee alles erklären – warum sie zum Beispiel dienstags den Wagen ihres Vaters nicht auf der linken Seite der Bank Street parken konnte oder wie viele Schiffe hier in der Bucht gesunken waren.
Jetzt unterbrach die quäkende Stimme der Angestellten wieder ihre Gedanken. »Na, Ethan Stone«, sagte sie. »Der war Claires erste Liebe, und wir dachten ja alle, die würden mal heiraten, aber dann hat er sich doch tatsächlich für die Kirche entschieden statt für ihre schönen roten Haare. Das hat ihr das Herz gebrochen. Kurz danach ist sie die Frau von Whit Turner geworden, und das hat sich für sie ja offensichtlich bislang ausgezahlt, aber …«, jetzt lehnte sich die Frau vor und senkte die Stimme zu einem Flüsterton, »mir kann sie da nichts vormachen. Sie ist immer noch eine Gilly, und das wird sich niemals ändern. Sie kann vielleicht der Marsch den Rücken kehren, das Salz lässt sie aber nicht
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