Das Geheimnis der Salzschwestern
nur, diesen Kitzel erneut zu erleben. Auch jetzt gab sie nach, entspannte die Arme unter seinem Gewicht und ließ den Kopf genüsslich nach hinten sinken.
Als Whit eingeschlafen war, kroch Claire aus dem Bett und inspizierte Idas Frisiertisch. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die dekorativen Knöpfe der Schubladen. Bislang hatte sie es vermieden, einen Blick hineinzuwerfen, als ob Ida von den Toten auferstehen, aus der Wand springen und ihr für dieses Verbrechen die Hände abhacken könnte. Claire schminkte sich im Badezimmer und bewahrte ihre wenigen Kosmetikartikel dort in einer Schublade auf. Sie sah zu Whit hinüber, der war jedoch komplett außer Gefecht gesetzt, lag auf dem Rücken und schnarchte. Dann atmete sie einmal tief durch und beugte sich vor, um das mittlere Schubfach zu öffnen.
Sie musste ein wenig daran herumruckeln, irgendetwas steckte da offensichtlich fest. Sie übte mehr Kraft aus, die Lade schoss hervor und stieß ihr die Hand in den Bauch. Mit angehaltenem Atem beugte Claire sich vor. In dem hölzernen Kasten entdeckte sie eine silberne Nagelschere, eine Schildpattpuderdose mit Sprung, eine Kette Cloissoné-Perlen und seltsamerweise ein Säckchen Salz, das ein wenig zerrissen war, weil es an der Ecke der Lade hängengeblieben war. Vielleicht hatte sie deshalb geklemmt. Claire runzelte die Stirn und griff nach dem Beutel. Der Stoff war brüchig und verblichen. Sie nahm das Säckchen vorsichtig heraus, weil sie das Material nicht noch mehr beschädigen wollte, aber ihr purzelten trotzdem ein paar Salzkristalle in die Hand, wo sie ihr im Mondlicht zuzwinkerten. Die waren doch der Grund für all ihr Unglück. Claire leckte an ihrem Finger, führte ihn sich an die Lippen und verzog angesichts der vertrauten Würze das Gesicht – es war der Geschmack ihres Zuhauses, den sie doch unbedingt vergessen wollte.
Warum bloß bewahrte ausgerechnet Ida ein Säckchen Salz in ihrer Schublade auf, fragte sich Claire. Sie wusste, dass Ida alles an der Marsch gehasst hatte, auch wenn sie immer versucht hatte, sie Claires Mutter abzukaufen. Vielleicht, überlegte Claire, war das Salz für Ida das Körnchen in der Auster gewesen. Vielleicht hatte dieses Zeug sie dazu angetrieben, etwas Unerwartetes und Wunderbares zu erschaffen. Inzwischen war es im Zimmer so still, dass Claire befürchtete, die Luft zum Bersten zu bringen, wenn sie auch nur atmete. Sie spitzte die Ohren – klapperte denn kein Fenster mehr, raschelte es vielleicht in der Wand? Aber da war nichts, und die Stille machte ihr noch viel mehr Angst als irgendwelche Geisterlaute, die das Haus hervorbringen konnte. Denn Ida war nicht fort, das wusste Claire. Sie würde niemals gehen. Sie wartete einfach nur ab, was Claire in ihrem alten Zuhause tun würde. Indem sie auf Idas Stuhl saß, ihren Diamantehering und ihre alte Halskette trug, machte Claire eigentlich einfach da weiter, wo Ida aufgehört hatte, und sie war gar nicht sicher, ob sie das überhaupt wollte. Sie nahm die Kette mit der Perle ab, legte sie auf die Ecke des Frisiertisches und wandte sich ab, und dann schob sie sich neben ihrem Ehemann ins Bett, den sich selbst ausgesucht hatte. Und wie man sich bettet, so liegt man.
Claires vierte Fehlgeburt war die schnellste und die letzte – Blut rann ihr die Schenkel hinab, ihr wurde schwindelig, und dann war alles vorbei, wie eine umgekehrte Menschwerdung. Statt aus dem Nichts zu entstehen, endete Claire im Nichts, lag mit hochgezogenen Knien im Bett, so leer wie die Schale eines Bettlers während einer Hungersnot. Sie nahm jeglichen Schmuck ab – auch Idas Perle, die sie sonst immer trug, sogar ihren Ehering – und verstaute alles im Frisiertisch. Von nun an wollte sie sich der Welt so schlicht wie möglich präsentieren, sie selbst und weiter nichts, ohne jeden Zierrat.
Whit konsultierte mit ihr einen Spezialisten in Boston und holte dann noch bei einem anderen Arzt eine zweite Meinung ein, aber das Urteil fiel immer gleich aus. Alles schien in Ordnung zu sein, in Wirklichkeit war es das aber nicht.
»Und wenn wir ein Baby adoptieren?«, krächzte Claire fünf Tage später. Das waren die ersten Worte, die sie sprach.
Voll selbstgerechter Unfehlbarkeit setzte Whit sich neben sie aufs Bett. »Ausgeschlossen«, stellte er klar. »Ich brauche einen wahren Sohn und Erben, ein Turner-Kind, mein eigen Fleisch und Blut, nicht irgend so einen Bastard, den niemand will.« Er lehnte sich vor und versuchte seine Frau aufzumuntern: »Claire,
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