Das Geheimnis der schönen Catherine
charmantesten und modischsten der Freundinnen ihres Vaters abgegangen war. Catherine vermutete, dass ihr verstorbener Vater sie deshalb zu Rose Singleton statt zu einer seiner anderen Frauen geschickt hatte. Überrascht hatte sie allerdings, dass die vornehme Miss Singleton sie überhaupt aufgenommen hatte. Offensichtlich fühlte Rose Singleton sich ihrem Vater immer noch verbunden. Und dieselbe Zuneigung brachte sie auch seiner Tochter entgegen: Rose hatte Catherine schon bei der Ankunft so herzlich umarmt, als stünde ihr Catherine tatsächlich nahe und wäre wirklich ihre Nichte, die lange im Ausland gelebt hatte. »Hübsche Perlen trägst du da. Sehr passend«, bemerkte Rose beiläufig, während sie die Stufen der Eingangstreppe hinuntergingen. »Mein Kompliment. Die meisten jungen Damen in deiner Situation würden der Versuchung erliegen und sich mit Juwelen bekränzen. Aber ich finde, dass Diamanten nichts für junge Mädchen sind. Sie sind so hart. Diese schlichten Perlen hingegen sind genau das Richtige für ein junges Mädchen wie dich.«
»Diamanten? Sei unbesorgt, Tante Rose, Diamanten werde ich wohl kaum anlegen!« Catherine konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Diamanten! Catherine hatte aus finanziellen Gründen nichts weiter als ein schlichtes Schmuckset aus Perlen erstehen können. Diamanten waren einfach unerschwinglich für sie. Miss Singleton nickte erfreut. »Das ist sehr weise von dir, meine Liebe. Schließlich wollen wir doch nicht vulgär wirken.«
»Nein, Tante Rose«, pflichtete Catherine ihr bei. Insgeheim rätselte sie, was Rose mit dem Ausdruck »ein Mädchen in deiner Situation« wohl meinte. War das eine Anspielung auf den Platz in der Gesellschaft, den Catherine sich angemaßt hatte? Sie starrte Rose einen Moment irritiert an, während ihr der Diener in die Kutsche half. Dann verdrängte sie den Gedanken. Die Nachtluft war kalt und der Himmel unnatürlich hell. Schon bald fuhr die Kutsche vor dem Stadthaus der Parsons vor, einem mächtigen, etwas exzentrischen Gebäude mit griechischen Säulen und gotischen Wasserspeiern. Die Fassade des Hauses wurde sowohl von modernen Gaslaternen als auch von Fackeln, die eine Reihe livrierter Diener in Händen hielten, hell erleuchtet. Catherine stieg nach Miss Singleton aus der Kutsche und blickte auf die Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude drängte. Vorfreude und Spannung überkamen sie. Heute Abend würde sie ihr Leben genießen. Heute Abend würde sie ganz das sorglose junge Mädchen sein können, für das jeder sie hielt. Zweifellos würde sie später dafür bezahlen müssen, aber das konnte sie nun einmal nicht ändern. »Ist es nicht herrlich?« flüsterte das junge Mädchen, das neben Catherine saß. »So viele Leute! Ich war noch nie in London auf einem Ball«, fügte sie schüchtern hinzu.
Catherine lächelte. »Für mich ist es auch die erste Saison.«
»Sind die Damen nicht schrecklich elegant?«
»Schrecklich«, pflichtete Catherine ihr ernst bei. »Catherine, Lord Norwood würde gerne mit dir tanzen. Gib ihm deine Karte, meine Liebe«, unterbrach Miss Singleton das Gespräch und lächelte Catherine bedeutungsvoll zu. Lord Norwood beugte sich galant über Catherines Hand. Sein blondes Haar war mit viel Pomade zu einer wilden Sturmfrisur frisiert.
Unter seinem knapp bis zur Taille reichenden Frack trug er eine extravagant bestickte Weste, und der Kragen seines Hemdes war so hoch, dass er kaum den Kopf drehen konnte. Am bemerkenswertesten war sein Halstuch: Es war auf eine verwirrende Art geschlungen und einige Male in sich verknotet. Hellgelbe Hosen und Anstecknadeln vervollständigten das Ensemble. Alles in allem war Norwood der Inbegriff eines Dandys. Catherine reichte ihm ihre Karte und bemühte sich, ihren Widerwillen zu verbergen. Schon seit einigen Tagen versuchte sie, diesen hartnäckigen Verehrer zu entmutigen, doch der junge Mann schien keinen ihrer Winke zu bemerken. Noch war sich Catherine nicht schlüssig geworden, ob sein Selbstvertrauen derart unerschütterlich war, dass er ihre Ablehnung einfach nicht verstehen konnte, oder ob er ein anderes Motiv hatte, ihre Unwilligkeit zu ignorieren – eine Wette oder etwas Ähnliches. Denn unwillig war sie: Ihr Plan sah freundschaftliche Beziehungen, ob nun zu Männern oder Frauen, nicht vor. Sie war wegen des Versprechens in London, das sie ihrem Vater geleistet hatte, und nicht, um Freundschaften zu schließen. Lord Norwood kritzelte seinen Namen auf ihre Tanzkarte,
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