Das Geheimnis der schönen Catherine
jedes Wort verstehen konnte. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob Mr. Devenish auch die leise geflüsterten Antworten ihres Gastgebers hören konnte. In der großen Halle blieb der Hausherr stehen und begann mit seinen Erklärungen zu Maler und Sujet – bei den ältesten Bildern. Der Firnis der Gemälde war teilweise stark nachgedunkelt, und die abgebildeten Personen posierten in Catherines Augen sehr steif. Sie war insgeheim froh, dass sie nicht mit ihnen verwandt war, denn die meisten Singletons sahen äußerst langweilig aus, auch wenn einige Frauen ihr irgendwie vertraut vorkamen. Insgesamt überwogen die Bilder grimmig dreinblickender Männer, die entweder affektiert, aufgeblasen oder einfach nur öde wirkten. Am wenigsten gefielen ihr die Jagdszenen, auf denen meist ein berittener, bewaffneter Mann mit seinen Söhnen abgebildet war, umringt von Jagdhunden, eine Unzahl toter Tiere zu Füßen – Füchse, Fasane, manchmal auch Hirsche. Außer den Erwachsenenporträts gab es auch Bilder von Kindern. Sie wirkten allerdings wie Miniaturerwachsene. Auch sie posierten steif, ernst und wenig froh. Ein paar der kleinen Mädchen trugen eng geschnürte Korsette und sahen aus, als könnten sie darin kaum atmen. Die Damen trugen die Kleidung ihrer Zeit, wodurch die Galerie einem Gang durch die Modegeschichte gleichkam.
Catherine wurde nicht zum ersten Mal bewusst, dass Schönheit wirklich im Auge des Betrachters lag und sich die Schönheitsvorstellungen im Lauf der Zeit stark gewandelt hatten. Zu manchen Zeiten hatten offenbar Frauen mit hoher Stirn als schön gegolten. Manche hatten sich den Haaransatz so weit ausrasiert, dass sie fast kahlköpfig wirkten. »Und? Bewundern Sie den Familienschmuck?« meinte jemand mit tiefer Stimme hinter ihr besorgt. »Vergessen Sie bloß nicht, dass ich auf Sie aufpassen werde.« Catherine senkte ihre Stimme zu einem melodramatischen Flüstern. »Zu spät. Ich habe meinem armen, ahnungslosen Cousin George entlockt, an welchem geheimen Ort der Schmuck aufbewahrt wird. Um Mitternacht werde ich zurückkehren, ihn seiner Reichtümer berauben und auf meinem schwarzen Hengst in die Dunkelheit der Nacht entfliehen.«
»Oh«, meinte er steif. Einen Moment lang blickte er sie ratlos an, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob sie scherzte oder nur vorgab zu scherzen, um ihn auf eine falsche Fährte zu locken, und es in Wirklichkeit ernst meinte.
Fröhlich zwinkerte Catherine ihm zu. Sein harter Blick wurde weicher. »Sie sind einfach unmöglich!«
sagte er mit Strenge, aber ein Lächeln erhellte seine Züge. Dann wurde er wieder ernst. »Sie haben wirklich keine Ahnung, in welche Gefahr Sie sich begeben. Aber ich habe ein Auge auf Sie. Offensichtlich haben Sie sich das, was ich Ihnen gesagt habe, nicht zu Herzen genommen.« Nicht zu Herzen genommen?
Sie würde seine Worte immer in ihrem Herzen bewahren. Immer würde sie sich an seine Worte erinnern können. Heirate mich, hatte er gesagt. »Wenn man Sie erwischt, hängt man Sie auf!«
Catherine errötete. »Ach, das meinen Sie!«
»Ja, das. Und ich lasse nicht zu, dass Sie weiterhin so viel riskieren. Ihr Hals ist viel zu hübsch für einen Hanfstrick.« Sie zuckte mit den Schultern und schlenderte zum nächsten Bild. Natürlich machte sie sich Sorgen. Natürlich hatte sie Angst davor, ertappt zu werden. Sie war ja nicht dumm. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, sie in Lebensgefahr brachte. Aber sie hatte es nun einmal versprochen und musste ihr Versprechen auch halten. Schon als kleines Mädchen hatte sie gelernt, dass man nur zwei Möglichkeiten hatte, wenn man sich für ein Leben voll Gefahren und hoher Risiken entschloss: Entweder wurde man wahnsinnig vor Angst, oder man nahm die Dinge, wie sie kamen.
Wie ihr Vater hatte sie Letzteres gewählt. Hugo ballte die Hände zu Fäusten. Noch nie hatte er sich derart hilflos gefühlt. Er hatte sich daran gewöhnt, dass die Leute taten, was er ihnen befahl. Und er schützte, was ihm gehörte. Er schützte sein Heim, seinen Besitz, seine Angestellten – sogar seine Verwandten, auch wenn sie das wenig zu schätzen wussten. Aber noch nie hatte er jemanden so sehr beschützen wollen, nein, müssen, wie diese Miss Catherine Singleton. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der so schutzbedürftig gewesen war wie sie und so entschlossen, sich in Lebensgefahr zu begeben. Und alles für eitlen Tand. Für ein paar Juwelen. Für frivole
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