Das Geheimnis der Schwestern
eintrat, stand Harding auf. Er war ein großer Mann, dessen Bauch fast die Knöpfe von seinem weißen kurzärmligen Hemd sprengte. Die ausgebeulte braune Polyesterhose, die sich unter seinem Bauch spannte, wurde von Hosenträgern gehalten. Er hatte sein fleischiges Gesicht, auf dem sich ein Bartansatz zeigte, in betrübte Falten gelegt und ähnelte damit einem Bassett. »Hallo, Vivi Ann«, begrüßte er sie. »Tut mir leid, dass wir dich herrufen mussten. Ich weiß, dass auf der Ranch momentan viel zu tun ist.«
Sie nickte bestätigend und blickte in die Ecke, wo ihr fast vierzehnjähriger Sohn auf einem Stuhl fläzte. Er hatte ein Bein lässig ausgestreckt. Sein pechschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht und verdeckte eins seiner grünen Augen – die hatte er von ihr geerbt. Ansonsten war er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Als sie zu ihm ging, strich er sich die Haare hinter die Ohren, und da sah sie das blaue Auge und den Riss an seiner Wange. »Ach, Noah …«
Er verschränkte die Arme und starrte aus dem Fenster.
»Er ist in der Mittagspause wieder in eine Prügelei geraten. Erik Jr., Brian und noch ein paar Jungs waren beteiligt. Tad musste zum Arzt und geröntgt werden«, erzählte Harding.
Die Schulglocke läutete, und unmittelbar darauf erzitterte der Boden unter ihnen von den Schülern, die scharenweise in die Klassen zurückströmten. Ihre Stimmen drangen bis ins Büro.
Harding drückte einen Knopf der Gegensprechanlage und sagte: »Bitte schicken Sie Rhonda zu mir.« Dann sah er zu Noah. »Junger Mann, ich verliere langsam die Geduld mit dir. Du bist dieses Jahr schon das dritte Mal in eine Prügelei verwickelt.«
»Ist das jetzt strafbar, wenn man verprügelt wird?«
»Aber mehrere Schüler haben behauptet, du hättest angefangen.«
»Hätte ich mir denken können«, entgegnete Noah verbittert, aber Vivi Ann kannte ihn gut genug, um den Schmerz hinter seiner Wut zu sehen.
Harding seufzte. »Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn ein paar Tage vom Unterricht ausschließen, aber Mrs Ivers ist offenbar der Meinung, er verdiente noch eine letzte Chance. Und da es nur noch zwei Wochen bis zu den Ferien sind, werde ich mich ihr anschließen.« Er sah zu Vivi Ann. »Aber du musst den Jungen fester an die Kandare nehmen, Vivi Ann. Bevor noch jemand ernsthaft zu Schaden kommt wie bei –«
»Das werde ich, Harding.«
Hinter ihnen öffnete sich die Tür, und Rhonda Ivers trat ein.
»Du kannst gehen, Noah«, sagte Harding, worauf Noah sofort aufsprang.
Als er sich an Vivi Ann vorbeidrücken wollte, packte sie ihn am Arm und wirbelte ihn zu sich herum. Mittlerweile war er so groß, dass sie sich direkt in die Augen sehen konnten. »Du kommst heute direkt nach der Schule heim. Und nur bei Grün über die Straße. Selbst wenn du zweihundert Dollar findest, du gehst einfach dran vorbei, klar?«
Er riss sich los. »Ja, ja.«
Als er weg war, sagte Harding: »Ich hoffe, du weißt, was du tust, Rhonda.« Dann bedachte er sie beide mit einem durchdringenden Blick und verkündete: »Ihr könnt euch jetzt besprechen. Ich hab Aufsicht.«
Rhonda wartete, bis er gegangen war, und setzte sich dann an seinen großen Metallschreibtisch. Zwischen den unzähligen Papierstapeln wirkte sie zart wie ein Vögelchen. Sie sah noch ganz genau so aus wie zwanzig Jahre zuvor, als sie versucht hatte, Vivi Ann Beowulf nahezubringen. »Setz dich, Vivi«, bat sie.
Vivi Ann war es so leid; sie fühlte sich, als hätte sie seit zwölf Jahren einen unsichtbaren Feind nach dem anderen bekämpft. Seit dem Augenblick, als Al Dallas gefragt hatte, wo er Heiligabend gewesen war.
»Wir wissen ja alle über Noahs Hintergrund Bescheid«, setzte Mrs Ivers an, als Vivi Ann Platz genommen hatte. »Und sein Problem. Wir wissen, warum er unglücklich ist und sich so verhält.«
»Sie glauben also, er sei unglücklich? Ich dachte … ich hoffte, es handelte sich nur um ganz normale Teenagerrebellion.«
Rhonda bedachte sie mit einem mitleidigen Lächeln. »Weißt du, dass sich die anderen über ihn lustig machen?«
Vivi Ann nickte.
»Er braucht einen Freund, vielleicht auch einen Psychologen, aber diese Entscheidung liegt natürlich bei dir. Ich spreche jetzt mit dir, weil er dieses Jahr Literatur nicht bestehen wird. Ganz gleich, wie ich es rechne, er wird die verpassten Stunden nicht nachholen können.«
»Wenn Sie ihn sitzenbleiben lassen, wird sein Problem nur noch größer. Dann denken die anderen nicht nur, er wäre
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